von Mariella Scheer
Als ich kürzlich morgens über meinem Kaffee brütete und bemüht war, mich vor Arbeitsbeginn in einen wachen Zustand zu versetzen, hörte ich im Radio eine Werbung für ein allseits beliebtes Möbelhaus. Mit dem durch die Corporate Identity indizierten skandinavischen Akzent fragte mich eine markante Bassstimme: „Wusstest du eigentlich, dass man nicht gleichzeitig schnarchen und träumen kann?“ – „Was für ein Quatsch,“ dachte ich. „Das haben die sich doch garantiert ausgedacht. Das ist aber unseriös.“ Da sprang mir ein Begriff in den Kopf. „Alternative Fakten“. Und dann erschrak ich. Über mein eigenes Misstrauen und darüber, dass eine harmlose Werbung eine so politisierte Reaktion in mir hervorrief.
Ich erinnere mich auch an ein Erlebnis in Berlin vor einigen Jahren. Als ich dort wohnte, bin ich jeden Morgen mit dem Fahrrad am Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung vorbeigefahren. In unmittelbarer Nähe des Eingangs ist eine Bushaltestelle. Eines morgens stand dort ein herrenloser Aktenkoffer. Ich bekam auf meinem Fahrrad einen kurzen Schrecken und fragte mich sogar, ob ich das der Polizei zu melden hätte, fuhr dann aber weiter. Da danach nichts ungewöhnliches in Berlin passierte, war es wohl eben nur ein vergessenes Gepäckstück. Ich weiß aber noch gut, welchen schalen Nachgeschmack es bei mir hinterließ, dass mein erster Impuls, die Situation zu interpretieren, nicht etwa auf Mitleid mit dem armen Menschen hinauslief, der seine Unterlagen hatte stehen lassen, sondern auf ein leichtes Gruseln vor einer womöglich politisch motivierten Gewalttat in der Nähe eines Bundesministeriums.
Das Misstrauen gegenüber dem Wahrheitsgehalt von Nachrichten und der Glaubwürdigkeit von Politiker*innen ist um ein vielfaches gefährlicher als eine Überreaktion auf einen verlorenen Koffer, denn es ist viel subtiler. Das aktuelle politische Klima schürt ein solches Misstrauen und tut der Gesellschaft nicht gut. Ich beobachte das an mir selbst. Es ist natürlich eigentlich egal, ob man wirklich nicht gleichzeitig schnarchen und träumen kann. Aber Tatsache ist, dass ich mir fast sicher bin, dass ich noch vor einigen Monaten in Reaktion auf diese Behauptung gedacht hätte: „Was, wirklich? Interessant. Das muss ich einmal nachlesen.“
Der Unterschied ist die Richtung, aus der ich mich der Information nähere. Früher hätte ich sie zunächst als korrekt akzeptiert, und eine Überprüfung hätte der Bestätigung dieser Annahme und der Erweiterung des Hintergrundwissens gedient. Heute unterstelle ich eher dem Sprecher eine Falschaussage und nehme die Erwartungshaltung ein, dass mir diese Behauptung erst einmal jemand beweisen muss. Das Misstrauen sitzt tief. Wenn das bei so banalen Dingen der Fall ist, wie funktioniert mein Gehirn dann inmitten des politischen Diskurses? Wie reagiert es auf Streitgespräche im Wahlkampf und die zugehörige Berichterstattung? Wie will ich mir noch eine fundierte Meinung bilden, wenn ich grundsätzlich nicht mehr glaube, was ich lese oder höre?
Marina Weisband hat in der Zeit ein interessantes Essay über „alternative Fakten“ geschrieben. Sie erklärt die Funktionsweise so:
Wenn ich Ihnen sage: „Der Himmel ist grün“, dann ist es gar nicht so sehr mein Ziel, dass Sie mir auf Anhieb glauben. Mein Ziel ist es vielmehr, so häufig zu behaupten, der Himmel sei grün, bis Ihre Ressourcen, den Widerspruch auszuhalten, erschöpft sind und Sie einlenken und sagen: „Das ist Ihre Meinung. Ich denke, der Himmel ist blau. Es gibt wohl keine Möglichkeit, die Farbe des Himmels objektiv festzustellen.“ Steter Tropfen höhlt den Schädel. Das Ziel offensichtlicher Lügen ist der Beweis der Machtlosigkeit von Wahrheit; die Verschiebung des Diskurses, sodass alles plötzlich infrage gestellt wird.
Es geht also nicht darum, dass eine breite Masse den Himmel irgendwann für grün hält. Es geht um eine Atmosphäre kollektiver Orientierungslosigkeit, die das Individuum hilflos macht und von seiner Rolle im demokratischen Prozess entfremdet. Denn wenn nichts mehr glaubhaft ist, wofür soll ich mich dann noch einsetzen?
Die Werbung spielt auch andernorts mit Fragen von Wahrheit und Lüge, von Glaubwürdigkeit und Skepsis. Eine große Fastfoodkette wirbt derzeit mit dem Slogan „Glaub nicht alles, was man dir erzählt“ – dem vorangestellt sind offensichtliche Falschaussagen. Das Schnellrestaurant möchte damit wohl seine Rechtschaffenheit und seine transparente Informationspolitik bewerben. Fraglich ist, ob die Kampagne zum richtigen Zeitpunkt kommt. Ich schätze es, wenn Menschen dazu angeregt werden, Dinge zu hinterfragen. Wenn das gesellschaftliche Klima aber die Existenz von verlässlichen Fakten grundsätzlich in Frage stellt, wäre es vielleicht jedermanns Aufgabe, Vertrauen zu schaffen und gesicherte Tatsachen in den Vordergrund zu stellen.
Wo liegt die Grenze zwischen einem kritischen Geist und völliger Orientierungslosigkeit? Die Prozesse um die Förderung eines Grundmisstrauens zu reflektieren ist der erste Schritt, sich ihnen zu widersetzen. Die Diskussion um die Farbe des Himmels darf eben nicht aufgegeben werden. In der politischen Bildung hat man dazu immer wieder die Chance; ich persönlich wurde zum Beispiel schon gebeten, zu beweisen, dass der Klimawandel keine Erfindung politischer Lobbyisten sei. Aufzugeben und dem Gegenüber zuzugestehen, dass es nicht an den Klimawandel zu „glauben“ braucht, würde die von Marina Weisband befürchtete Verschiebung des Diskurses befördern, die im schlimmsten Fall die politische Debatte an sich zerstören könnte. Und dann ist die Demokratie tatsächlich in Gefahr.
[Ich habe übrigens noch nicht herausgefunden, ob die Werbung die Wahrheit gesprochen hat, weil ich noch keine vernünftige Quelle gefunden habe, die das Statement zum Schnarchen und Träumen stützt – allerdings auch keine, die es widerlegt. Den Werbeclip habe ich seitdem nicht noch einmal gehört und auch nicht online gefunden. Sachdienliche Hinweise dürfen gerne in den Kommentaren hinterlassen werden.]
Mariella Scheer ist wissenschaftlich-pädagogische Mitarbeiterin im GESW.