[mg] Die jüngsten Wahlergebnisse aus Frankreich und Großbritannien werden mit vorsichtiger Genugtuung und sichtlicher Erleichterung in der Bundesrepublik zur Kenntnis genommen. Nicht zuletzt das schlechte Abschneiden von Front National und UKiP spielen dabei eine Rolle: Mit dem Bekenntnis zu Europa scheint man also doch Politik machen zu können. In der östlichen Nachbarschaft ist die Lage dagegen keinesfalls entspannt: Die Europäische Union hat schon vor geraumer Zeit Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit Polens und Ungarns angemeldet. Den Polen droht überdies jüngst erneut Ärger mit der EU-Kommission, weil die Regierung angeordnet hat, Teile des letzten europäischen Urwalds Białowieża im Nordosten des Landes abzuholzen. Bislang scheint auch der drohende Entzug von EU-Geldern wenig Eindruck auf die beiden Mitgliedstaaten zu machen.
Dass sich Europaskeptiztismus, Nationalismus und Populismus inzwischen über ganz Europa und sowohl über linke als auch rechte politische Lager verteilen, zeigt die Neue Osnabrücker Zeitung mit einer systematischen Kurzübersicht. Von zehn besprochenen Ländern befinden sich mit den zwei bereits genannten, Polen und Ungarn, allerdings nur zwei in Ostmitteleuropa. Der Blick Deutschlands auf Europa ist noch immer stark nach Westen gerichtet. Dabei ist das Phänomen im geographischen Osten des Kontinents schon länger dominant. In der Tschechischen Republik und in der Slowakei etwa sind ebenfalls nationalkonservative Politiker an der Macht.
Auf die Frage danach, in welchen ostmitteleuropäischen Ländern er die Demokratie in Gefahr sehe, antwortet der Osteuropa-Historiker Stefan Troebst:
In Polen, Mazedonien, der Türkei und Ungarn ganz akut, in Rumänien, Serbien, Albanien, Österreich, Kosovo, Moldau, Ukraine und Bulgarien latent und lediglich scheindemokratisch sind die Regime in Belarus, der Russischen Föderation sowie in der Republik Srpska innerhalb Bosniens und Herzegowinas.
Dies vernichtende Diagnose verschiebt den Fokus der Debatte von der politischen Macht der europäischen Union hin zur Rolle der Demokratie an sich. Damit eng verbunden steht die Frage nach der Rechtsstaatlichkeit, weshalb auch Polen und Ungarn stark im Fokus stehen: Hier sind Einschränkungen der Presse- bzw. Meinungsfreiheit und der Verfassungsgerichtsbarkeit als Zeichen neuer Demokratie-Defizite nachweisbar.
Die Ursachen für diese Abwendung von der Demokratie in Ostmitteleuropa sind indes nicht vollends geklärt. Das Handelsblatt konstatiert Enttäuschung vom demokratischen System und damit einhergehend Wahlmüdigkeit. Die Neue Zürcher Zeitung diagnostiziert Versäumnisse im Transformationsprozess nach der politischen Wende von 1989 – übrigens auch im Bereich der politischen Bildung. Immer wieder wird auch die Angst vor Überfremdung genannt, die zu radikalen Positionen in der Flüchtlingspolitik führt und die EU vor große Herausforderungen stellt.
Eine breite öffentliche Auseinandersetzung nicht nur mit Polen und Ungarn, sondern auch mit den Entwicklungen auch in der Tschechischen Republik, der Slowakei, im Baltikum und auf dem Balkan ist für ein starkes und geeintes Europa dringend notwendig. Evelyn Rolls Plädoyer für Europa in der Süddeutschen Zeitung und die vielfältigen Reaktionen darauf zeigen, dass es durchaus Gesprächsbedarf und eine Bereitschaft zur Neuverhandlung Europas gibt. Dabei sollte der Blick sich viel stärker auf ganz Europa erstrecken – und nach Osten nicht länger erst in der Türkei einsetzen.
Das GESW bietet vom 7. bis 11. August eine Sommerakademie für junge Europäer*innen an, die sich mit der politischen Landschaft der EU-Mitgliedstaaten auseinandersetzen, Entscheidungsprozesse in der Europapolitik kennen lernen und sich für die Demokratie in Europa einsetzen wollen. Anmeldungen nimmt Mariella Gronenthal bis zum 3. Juli entgegen. Das Programm der Sommerakademie finden Sie hier.