von Mariella Gronenthal
Als studierte Polonistin bin ich es gewohnt, bei Auskunft über meine Ausbildung meinem Gegenüber ein großes Fragezeichen ins Gesicht zu malen. Schlechter haben es vielleicht nur Bohemist*innen oder Lusitanist*innen, deren Wissenschaftsdisziplinen namentlich noch weniger an den Kulturkreis erinnern, den sie zum Gegenstand haben. Konkretisiert man Polonistik als Wissenschaft der polnischen Sprach und Literatur, geben die Anschlussfragen jedoch häufig erst recht Anlass zur Sorge. „Polnisch?“ fragte einst ein Kommilitone entgeistert. „Aber das spricht doch keiner. Dann lern doch lieber – Dänisch oder so.“
Dass das Polnische mit etwa 45 Millionen Muttersprachler*innen etwa neunmal so verbreitet ist wie Dänisch, ließ meinen Bekannten damals gänzlich unbeeindruckt. Im Jahr des EU-Betritts des östlichen Nachbarn hätte man etwas weniger Ignoranz erwarten können, aber ich hatte es damals wohl mit einer der berüchtigten „gefühlten Wahrheiten“ zu tun, die auch heute die politische Debatte bestimmen und die überaus bezeichnend sind. Die kleine Anekdote sagt nämlich viel über die wahrgenommene Relevanz unserer ostmitteleuropäischen Nachbarn aus.
Um beim Beispiel Polen zu bleiben, kann man die Wertschätzung der Gesprächspartner*innen gegenüber dem Nachbarland schnell steigern, wenn man Maria Skłodowska-Curie ins Spiel bringt, Frederyk Szopen oder, den meisten tatsächlich auch als Pole bekannt, Papst Johannes Paul II. Man kommt ins Gespräch, räumt mit Vorurteilen auf und lernt – voneinander, miteinander und übereinander. Dafür nötig ist einzig etwas Neugier und Interesse an der Welt, die uns umgibt.
Die aktuellen politischen Entwicklungen jedoch beginnen, Einfluss auf solche informellen transkulturellen Bildungs- und Lernprozesse zu nehmen. Es ist nicht einfach, vorurteilsfrei zu bleiben, wenn die EU gegen Ungarn, Polen und die Tschechische Republik Vertragsverletzungsverfahren wegen deren Asylpolitik einleitet. Zuletzt waren es auch die offen rassistischen Anfeindungen gegenüber muslimischen Schüler*innen aus Berlin auf einer Bildungsfahrt in Polen, die in den Medien die Runde machten. Die Vehemenz, mit der nationalkonservative Ansichten vertreten werden, reibt sich mit der Vorstellung von einer europäischen Solidarität – und das im Mutterland der Solidarität, das mit der unabhängigen Gewerkschaft Solidarność entscheidend zum Ende des Kalten Krieges beigetragen hat.
Diese Veränderungen im politischen Klima erfordern nun umso intensiver eine Auseinandersetzung mit den politischen Systemen der Einzelstaaten und mit den Folgen für die Union. Der Blick fällt dabei nicht nur auf die Visegradstaaten, sondern natürlich auch auf den Front National, die Partij voor de Vrijheid oder die UK Independence Party und nicht zuletzt die Alternative für Deutschland. Wie verhält sich ein Europa der Nationen zu einer Stärkung der Europäischen Union? Ist Europa nun ein Problem oder eine Lösung? Und wie kann sich die EU weiter entwickeln, wenn sich die Einstellung zur Nation in den Mitgliedstaaten so stark voneinander zu unterscheiden beginnt – oder schon immer unterschieden hat?
Wie also einerseits die Europäische Union im Hinblick auf ihre einzelnen Mitglieder zu denken ist und wie andererseits jedes einzelne Land im Hinblick auf seine europäische Gebundenheit zu denken ist, scheint ein zentraler Fokus aktueller politisch, gesellschaftlich und kulturell relevanter Problemstellungen auf diesem Kontinent zu sein. Dabei bricht sich die Diskussion immer wieder im Begriff der Demokratie, der von verschiedenen Seiten unterschiedlich gefüllt und instrumentalisiert wird. So inszenieren sich gerade populistische Parteien häufig selbst als Retter der Demokratie, während sie von anderer Seite als undemokratisch bezeichnet werden. Gerade im Kontext der Europäischen Union, der selbst nicht selten ein Demokratiedefizit vorgeworfen wird, ist dies von einiger Brisanz.
Um eine tatsächlich gesamteuropäische Perspektive auf diese Fragestellungen geht es der Sommerakademie Was ist das für 1 Europa, die das GESW vom 7. bis 11. August 2017 ausrichtet. Das Studienwerk bietet ein solches Format erstmalig an und richtet sich mit dem Angebot an junge Menschen zwischen 18 und 26 Jahren, die sich für Europa einsetzen und die Entwicklungen besser verstehen, die Folgen leichter antizipieren können wollen. Inhalte umfassen die Auseinandersetzung mit europäischen Parteienlandschaften, mit Asylpolitik, mit medialen Strategien der politischen Kommunikation und mit der Zukunft der Europäischen Union. Dem Programm sind Details zu entnehmen. Wir hoffen auf rege Teilnahme – auch wenn man womöglich nicht abschließend herausfinden kann, wo genau Europa denn nun zu verorten ist, kann man sich seinem Kern im Gespräch vielleicht doch entschieden annähern.
[edit: Leider kann die Sommerakademie auf Grund zu geringen Rücklaufs nicht stattfinden.]
Mariella Gronenthal ist wissenschaftlich-pädagogische Mitarbeiterin am GESW.