von Dr. Gerhard Schüsselbauer
Die jüngsten Parlamentswahlen haben zwar keine Überraschung, aber für an demokratische und pluralistische Grundwerte Glaubende das schockierende Ergebnis gebracht, dass Ungarns ultrakonservative alte und neue Regierungspartei Fidesz und die rechtsradikale und offen antisemitische und europafeindliche Partei Jobbik die eindeutige Mehrheit in der „Landesversammlung“ (Országgyűlés) erobern konnten. Die Partei Fidesz war ursprünglich der Bund der jungen Demokraten, die einst liberal und antisozialistisch orientiert waren. Der Parteiname Jobbik ist sogar mehrdeutig, da er im Ungarischen sowohl die „Rechteren“ als auch die „Besseren“ meint. Diese Entwicklung ist auf eine ganze Reihe von Gründen und Faktoren zurückzuführen, zu denen das asymmetrisch ausgelegte Wahlrecht, das die Regierungspartei Fidesz überproportional begünstigt, maßgeblich beiträgt. Die Kernfrage für die Zukunft des ostmitteleuropäischen Landes lautet hingegen: Befreien sich die Andersdenkenden in Ungarn von der Umarmung bzw. Umklammerung ihres Ministerpräsidenten Viktor Orbán und seiner Regierungsmannschaft (mit Betonung auf „Mannschaft“)?
Nicht nur nach den letzten Parlamentswahlen wird klar, es müssen noch viel mehr (junge) Menschen in Ungarn mobilisiert werden, um den „Pulse of Europe“ sowie weitere zivilgesellschaftliche Aktionen auf den Plan zu rufen und massiv zu stärken. Die jüngsten Großdemonstrationen zeigen unmissverständlich, dass sich die Oppositionellen gar als „Mehrheit“ verstehen. Sie wollen nun die Schweigenden dazu ermuntern, die bislang unumstößlich im Sattel sitzende Regierung von Viktor Orbán herauszufordern. Und die Anschuldigungen sind sehr schwerwiegend gegen die Regierung, die sich selbst als „ultrakonservativ“ bezeichnet und ein Bollwerk gegen den Multikulturalismus und Liberalismus sowie libertäre und offene Lebensformen in Europa darstellen will. Es geht um nichts weniger als die systematische tektonische Verschiebung der republikanischen Prinzipien der strikten Gewaltenteilung zugunsten der Exekutive durch die Fidesz-Regierung. Einschränkungen der Unabhängigkeit der Justiz gehen einher mit Beschränkungen der Arbeitsweise und Finanzbasis von Nichtregierungsorganisationen. Faktisch soll zivilgesellschaftliches Engagement genauso unmöglich gemacht werden, wie die Anerkennung als Asylbewerber*in in Ungarn verunmöglicht wurde. Dieser verfassungsmäßige Grundsatz wurde bereits durch die Rechtspraxis und den Einfluss der Regierung auf das nicht mehr unabhängige Justizwesen ausgehöhlt.
Bislang konnte sich die Regierung von Viktor Orbán breiter Zustimmung in der Bevölkerung erfreuen. Dazu tragen auch die robuste wirtschaftliche Entwicklung mit soliden realen Wachstumsraten des BIP sowie die gesunkene Arbeitslosigkeit bei. Jedoch muss man den statistischen Effekt in der stark gesunkenen Arbeitslosenquote berücksichtigen, denn in den letzten Jahren haben mehr als eine halbe Million, zumeist junge und ausgezeichnet qualifizierte Fachkräfte aus wirtschaftlichen, aber auch politischen Gründen das Land verlassen. Viele junge Menschen wollen sich nicht weiter einschüchtern lassen, die sozialen Medien und Internetportale sind voll von Anregungen, wie man dem Land am besten den Rücken kehren kann. Sozioökonomisch ist die Entwicklung ausgesprochen besorgniserregend, denn uneingeschränkte Freiheitsrechte, individueller und sozialer Erfindungsreichtum sowie Innovationsgeist und Kreativität sind genau diejenigen Faktoren, die jedes Land zur Aufrechterhaltung des dynamischen ökonomischen Wandels und Wachstums sowie des sozialen und gesellschaftlichen Fortschritts benötigt.
Von Seiten des Europäischen Parlaments sowie der Venedig-Kommission des Europarates werden schwere Vorwürfe gegen die rechtskonservative Regierung laut, was Grundfreiheiten (Presse-, Medien- und Versammlungsfreiheit), Wahlprozeduren sowie die Aktivitäten des zivilgesellschaftlichen Sektors anbetrifft. Bedauerlich ist dabei, dass die Regierungspartei Fidesz, die erneut über eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit im Parlament verfügt, obwohl die Partei lediglich 49,3 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnte, im Lager der größten Parteiengruppierung im Europäischen Parlament sitzt, nämlich in der Fraktion der Europäischen Volkspartei EVP. Und die Führung der deutschen Regierungspartei CSU stellt sich demonstrativ als unmissverständlicher Befürworter von Orbáns hin und lobt seinen kompromisslosen und integrationsfeindlichen Kurs bspw. in der Flüchtlings- und Asylfrage. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier wohl „eine Krähe der anderen kein Auge aushackt.“ Gleichwohl ist die parteipolitische Entwicklung in Ungarn auch maßgeblich auf die Schwäche linksliberaler oder sozialdemokratischer Parteien zurückzuführen. Deren Zerstrittenheit und mangelnde Profilschärfe sind ein klares Zeichen für die fehlende Konsolidierung der Parteienlandschaft und der Demokratie. Diese enormen Defizite müssen nun durch außerparlamentarische und zivilgesellschaftliche Strömungen wettgemacht werden, um den Druck auf die Regierung von Viktor Orbán zu erhöhen, denn er scheint den entscheidenden „Medianwähler“ fest im Griff zu haben.
Dr. Gerhard Schüsselbauer ist Institutsleiter und wissenschaftlich-pädagogischer Mitarbeiter am GESW.