von Julius Honke
Zum nun bereits zweiten Mal fand in Vlotho das interreligiöse Begegnungsprojekt „Devotional Humans“ statt. Über eine Woche lang hatten die Teilnehmer*innen aus vier verschiedenen europäischen Ländern die Chance, sich über ihre religiösen und kulturellen Hintergründe, Traditionen, Werte und Vorstellungen auszutauschen.
Die Teilnehmer*innen brachten ein breites Spektrum an religiösen Vorstellungen ins Projekt ein: die Bosnier*innen größtenteils muslimisches Wissen, die Rumän*innen die Sichtweisen des orthodoxen Christentums und die Pol*innen mehrheitlich katholische Erkenntnisse. Bei den Teilnehmer*innen aus Deutschland hingegen dominierte eher eine atheistische Sichtweise, welche durch das Wissen muslimischer Teilnehmer*innen ergänzt wurde. Am ersten Tag des Projektes erreichten wir endlich das kleine Städtchen in Ostwestfalen. Nach einer kurzen Einführung zu den geplanten Aktivitäten der folgenden Tage fielen wir erschöpft in die Betten. Das sollte sich als weise Entscheidung herausstellen, denn am nachfolgenden frühen Morgen besuchten wir einen katholischen Gottesdienst der Kirche Heilig Kreuz. Bei den kühlen Temperaturen in der Kirche waren wir froh, uns durch das ständige Aufstehen und Hinsetzen etwas erwärmen zu können. Richtig aktiv wurden wir beim anschließenden mehrstündigen Theaterworkshop von und mit Markus. Hier konnten wir nicht nur miteinander etwas warm werden, sondern auch Kreativität beweisen. Zum Glück einiger weniger schauspielerisch begabter Teilnehmer*innen – darunter ich selbst – waren darstellerische Fähigkeiten für diese Aktivität sehr viel weniger von Bedeutung, als anfangs befürchtet.
Der folgende Tag war inhaltlich besonders intensiv. In einer Art „Speed-Dating“ vermittelten wir uns gegenseitig, jeweils unter vier Augen, ein sehr persönliches Bild von der Rolle der Religionen im jeweils eigenen Alltag. Am Nachmittag folgte eine Fishbowl-Diskussion zu den Themen Geburt und Taufe, Liebe und Ehe, sowie Tod und Beerdigung im jeweiligen kulturellen und religiösen Kontext. Diese stellte sich als so ergiebig dar, dass die Teilnehmer*innen darauf bestanden, die Diskussion zu einem anderen Zeitpunkt fortzuführen. Unsere flexiblen Organisator*innen erfüllten uns diesen Wunsch einige Tage später. Im Zuge der anschaulichen Diskussionen wurde unter anderem mit Erstaunen festgestellt, dass die Verstorbenen im Judentum doch nicht in vertikaler Position begraben werden und dass eine traditionelle rumänisch-orthodoxe Beerdigung beinhaltet, dass dem Totengräber ein lebendiges Hühnchen überreicht wird.
Mit ein wenig Beklemmung besichtigten wir später den jüdischen und städtischen Friedhof von Vlotho: Ehemalige Teilnehmer*innen berichteten nämlich im Vorfeld von ihren Erfahrungen eiszeitlicher Temperaturen im vlothoer Reich der Toten. Tatsächlich herrschten dieses Jahr, vor allem für diese Jahreszeit, nahezu sommerliche Temperaturen, sodass wir den Ausführungen der Theologin Angela mit der Sonne im Gesicht lauschen konnten.
Am vierten Tag stand ein Ausflug nach Bielefeld an. Die deutschen Teilnehmer*innen philosophierten noch während der gesamten Zugfahrt über die Existenz der Stadt. In Bielefeld angekommen, erhielten wir eine intensive Führung durch die katholische Kirche Sankt Jodokus und die darin ausgestellten Kunstwerke. Selbst die Kunstbanaus*innen unter uns konnten bei anschließendem Kaffee und Kuchen zufrieden gestellt werden. Die darauf folgende Freizeit wurde von einigen Teilnehmer*innen fleißig genutzt, um die lokale Wirtschaft des Einzelhandels anzukurbeln. Andere entschieden sich dazu, die Burg von Bielefeld zu erklimmen, um hier eine wohlverdiente Pause einzulegen, während andere die Gunst der Stunde nutzen, ihre Instagram-Accounts mit neuen Bildern zu bereichern. Am Ende des Tages waren einige deutsche Teilnehmer*innen immer noch nicht von der Existenz Bielefelds überzeugt und sprachen von einer großangelegten Verschwörung, der wir alle aufgesessen seien. Die Herkunft der getätigten Einkäufe und neuen Eindrücke aus der Kirche bleiben also bis heute innerhalb der Gruppe umstritten.
Am darauf folgenden Tag standen gleich zwei Treffen auf der Tagesordnung. Ein Imam der Umgebung hatte sich spontan dazu bereit erklärt, alle Fragen der Gruppe zu beantworten. Im Zuge dessen wurden unter anderem kurzerhand Pullover und Strickjacken zu Gebetsteppichen umfunktioniert, um zu veranschaulichen, wie im Islam gebetet wird. Anschließend folgte ein Gespräch mit Britta Hasselmann, welche sich als „Majority Whip“ im Bundestag vorstellte. Infolgedessen mussten einige von uns sofort an die zweifelhaften Machenschaften von Frank Underwood aus der Serie „House of Cards“ denken. Die Ausführungen zu parlamentarischen Praktiken bezüglich der Rolle von Religion in der deutschen Gesellschaft schafften es jedoch schnell, die angespannten Gemüter wieder zu beruhigen.
Am Folgetag brachte uns Martje, eine unserer Workshopleiter*innen, bei, unsere Gedanken in sogenannten Sketch-Notes festzuhalten. Am Nachmittag wandten wir das neuerworbene Wissen an, um uns einerseits über persönliche Bedeutungen von Religionen im Alltag auszutauschen und andererseits um das Wissen der vergangenen Tage in Form von Plakaten zusammenzufassen.
Am vorletzten Programmtag stand eine Busfahrt in die Stadt Hameln an, bei welcher Chris, einer unserer Organisator*innen, seine Fähigkeiten als Steward*ess beweisen konnte und uns die Fahrt so angenehm wie möglich gestaltete. Dort angekommen, hatten wir die Chance, mit der ortsansässigen Rachel in der Neuen Synagoge über das Judentum zu reden. Als hätte Rachel am vorherigen Tag selbst am Sketch Notes-Workshop teilgenommen, präsentierte sie uns mithilfe einschlägiger Skizzen die Unterschiede zwischen dem orthodoxen und liberalen Judentum. Ein Highlight für uns war es, als sie uns die Thora der Synagoge präsentierte und wir erfuhren, wie viel Arbeit darin steckt, eine neue Thora herzustellen.
Als Kontrastprogramm zum Besuch der Synagoge fuhren wir im Anschluss in das einzige deutsch-orthodoxe Kloster des Landes. Hier nahmen wir zunächst an einem Gottesdienst teil, bei welchem wir uns schnell die harten Sitzbänke der katholischen Kirche Heilig Kreuz aus Vlotho zurückwünschten, da es bei einem orthodoxen Gottesdienst üblich ist, während des gesamten Prozesses zu stehen. Im Anschluss konnten wir sämtliche Fragen, die uns während des Gottesdienstes aufgekommen waren, direkt an die Mönche des Klosters stellen. Dabei wurde uns unter anderem erklärt, dass ein jeder Mensch zum Teil als Tier und zum Teil als Engel geschaffen wurde. Es läge an uns selbst, welchen Teil wir in unserem Leben nähren würden. Nach dem langen Tag und der Rückfahrt nach Vlotho stürzte sich zugegebenermaßen das Tierische in uns auf das abendliche Buffet.
Am letzten Tag der Begegnung hatten wir die Chance unseren Engelsteil unter Beweis zu stellen. Es standen hitzige Debatten zu gesellschaftlich umstrittenen Themen an, wie etwa Feminismus, Abtreibung oder Homosexualität. Gerade hier konnten wir auf unser Wissen der vergangenen Tage zurückgreifen. Die gemeinsame Vertrauensbasis, die wir im Verlauf des Projektes geschaffen hatten, sowie ein respektvolles Miteinander ermöglichten es, die schwierigen Themen in bereichernder und konstruktiver Weise zu behandeln, ohne dass persönliche Grenzen überschritten wurden.
Da das Projekt genau in die Karnevalszeit fiel, verkleideten wir uns für die Abschiedsfeier ganz nach rheinischer Tradition und wählten uns, mehr oder weniger demokratisch, einen Prinzen, eine Jungfrau und einen Bauern aus den eigenen Reihen. Dass an diesem Abend keine Regeln gelten sollten, wurde nicht nur von den internationalen Teilnehmer*innen mit Skepsis aufgenommen, sondern auch von jenen aus Deutschland, denen diese Festlichkeiten völlig fremd waren oder noch schlimmer, welche diese als „Fasching“ bezeichnen. Auf der Feier tummelten sich plötzlich allerlei Gestalten, welche an Diskussionen der vergangenen Tage erinnerten, darunter das ominöse rumänische Begräbnishühnchen oder die hochschwangere Jungfrau Maria persönlich. Am meisten hatte sich jedoch unser Organisator Chris verwandelt, der plötzlich genauso wie einer der Teilnehmer*innen aussah.
Am nächsten Morgen stand dann schon die Abreise bevor. Obwohl die Zeit wie im Flug für uns verging, haben wir etliche neue Eindrücke und Wissen sammeln können sowie festgestellt, wie sehr sich die Religionen und Weltansichten im Großen und Ganzen doch ähneln. Das Projekt hat dazu beigetragen, gewisse Berührungsängste mit Religionen abzubauen und darüber hinaus auch Verständnis für einem zuvor fremde Praktiken erzeugt. Glücklicherweise wird der zweite Teil des Projektes im Juni in Rumänien fortgesetzt, weshalb der Abschied lediglich auf kurze Zeit erfolgte. Antworten auf offen gebliebene Fragen können so tiefgreifender beantwortet werden und sich neu gefundene Freund*innen wiedersehen.
Julius Honke (26) ist Teilnehmer des Projektes Devotional Humans 2019. Er studiert Soziologie an der Universität Potsdam.