Zukunft der Sozialen Marktwirtschaft in Deutschland

Dr. Gerhard Schüsselbauer

„…wenn und soweit die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich macht.“ Grundgesetz GG Art. 72 (2)

Seit der Wiedervereinigung und der Herstellung der deutschen Einheit sind gleiche soziale und ökonomische Lebensverhältnisse in Ost und West eines der umstrittensten normativen Hauptziele der Wirtschafts- und Sozialpolitik in der Bundesrepublik Deutschland. In der Substanz geht es um den Ausgleich der Produktivitätspotenziale und arbeitsmarktpolitischen Entwicklungen durch Struktur- und Regionalpolitik, um ein Abfedern der höchst ungleichen Entwicklungsniveaus in den einzelnen Bundesländern zu gewährleisten. Gleichzeitig ist das Ausnutzen von komparativen Standortvorteilen ein grundlegendes Kennzeichen des Wettbewerbsföderalismus und des Wettbewerbs zwischen den Wirtschaftsregionen, denn (Soziale) Marktwirtschaft ohne Wettbewerb ist undenkbar.

Die Wirtschaftsleistung der neuen Bundesländer sowie Berlins betrug Anfang der 1990er Jahre lediglich ca. 35 Prozent des Niveaus der alten Bundesländer. Zwar ist das BIP je Einwohner relativ zum Bundesdurchschnitt bis 2020 auf ca. 81 Prozent gestiegen, allerdings ist die aufholende Entwicklung zusehends erlahmt. Auch in Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen oder Bremen und selbst in Nordbayern gibt es erhebliche Strukturdefizite, sodass seit 2020 Förderprogramme auf alle benachteiligten Regionen ausgeweitet wurden. Von einer flächendeckenden strukturellen Schwäche in allen neuen Bundesländern kann hingegen nicht gesprochen werden, denn manche Regionen Thüringens oder Sachsens haben sehr wohl von der Gemeinschaftsaufgabe der „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ (GRW) profitiert. Moderne Industrieansiedlungen und zunehmendes Unternehmertum sind Kernelemente einer aufholenden Entwicklung. Nach wie vor ist allerdings ein geringeres Reallohnniveau, eine niedrigere Arbeitsproduktivität sowie damit einhergehend eine höhere Arbeitslosigkeit in den meisten Regionen der neuen Bundesländer zu beobachten.

Ein wichtiges Kennzeichen der Sozialen Marktwirtschaft sind neben dem Wettbewerbscharakter der marktwirtschaftlichen Prozesse die sozialpolitisch orientierten Angebote der staatlichen Daseinsvorsorge, vor allem im Gesundheitswesen und des Katastrophenschutzes, die für alle Bürger*innen unabhängig von der Finanzkraft der Regionen verfügbar sind. Gerade in der Covid-19-Pandemie kommt diesen ordnungspolitischen Aufgaben eine fundamentale Bedeutung zu. Interessanterweise haben die neuen Bundesländer einschließlich Berlin einen geringeren coronabedingten Wirtschaftseinbruch zu verkraften. Vor allem die geringere industrielle Tiefe und Exportabhängigkeit treten hier als wichtige Ursachen auf, während der Anteil öffentlicher Dienstleister, Bildung und Gesundheit an der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung in den neuen Bundesländern höher liegt als im Bundesdurchschnitt.

Nach wie vor sind das fehlende Unternehmertum und die mangelnde Entwicklung des Sektors klein- und mittelständischer Unternehmen KMU ein Hauptgrund für die höhere Arbeitslosigkeit in den meisten Regionen der neuen Bundesländer. Vor allem Langzeitarbeitslosigkeit und Beschäftigungslosigkeit gering qualifizierter Menschen stellen ein weiterhin großes strukturelles Defizit dar. Hinzu kommen gewaltige demographische Probleme durch die Alterung und Unterversorgung weiter ländlicher Regionen mit Dienstleistungen sowie der Bevölkerungsrückgang vor allem in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Mittlerweile sind die neuen Bundesländer mit Ausnahme Berlins geprägt von vornehmlich männlichen weißen Bewohnern im Rentenalter, denn auch der Anteil der Frauen und insbesondere junger Menschen ist deutlich niedriger als in den alten Bundesländern. Sozialpolitisch existiert daher die gewaltige Aufgabe, das dramatisch auseinanderklaffende Missverhältnis zwischen dem Altenquotienten und dem Jugendquotienten in den Griff zu bekommen. Der Altenquotient bildet dabei das Verhältnis der Personen im Rentenalter (z. B. 65 Jahre und älter) zu 100 Personen im erwerbsfähigen Alter (z. B. von 20 bis unter 65 Jahren) ab. Der Jugendquotient gibt an, wie viele Menschen unter 20 Jahre auf 100 Personen ebenfalls im erwerbsfähigen Alter von 20 bis unter 65 Jahre kommen. Die Zukunft der Sozialen Marktwirtschaft in Deutschland wird daher maßgeblich vom Spagat zwischen innovativer Wettbewerbswirtschaft und den sozialpolitischen Erfordernissen aufgrund der massiven demographischen Herausforderungen bestimmt.

Quellen: https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Publikationen/Neue-Laender/2021-jahresbericht-der-bundesregierung-zum-stand-der-deutschen-einheit-jbde.html

https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/wirtschaft/treuhand/wir-ostdeutsche-abwanderung-westen-100.html