Fest im Griff – Covid-19-Pandemie in den ost-, mittel- und südosteuropäischen EU-Ländern

Dr. Gerhard Schüsselbauer

„Vor kurzem hatte ich als leitender Oberarzt in der Klinik in Warschau einen klassischen 24-Stunden-Dienst von Samstagmorgen bis Sonntagmorgen. Während dieser Zeit wurden viele an Covid-19 erkrankte Patient*innen eingeliefert. Nicht daran zu denken, sich mal auszuruhen oder gar kurz hinzulegen… Unter den Eingelieferten waren auch sieben Männer im Alter zwischen 40 und 60 Jahren, die sich bereits in kritischem Zustand befanden. Alle sieben Männer waren ungeimpft, und alle sieben Männer sind innerhalb von 24 Stunden verstorben… die Leute, die dies leugnen, sollen mal zu uns kommen und sich das hier anschauen.“ (O-Ton eines Bekannten, der Kardiologe im größten Warschauer Klinikum ist)

Warum verlaufen die Corona-Wellen in ostmitteleuropäischen Ländern wie Polen, der Tschechischen Republik, der Slowakei und Ungarn oder in Rumänien und Bulgarien in den vergangenen Wochen und Monaten dramatischer als in anderen europäischen Ländern?

Derzeit sterben in den Ländern Ostmitteleuropas relativ zur Einwohnerzahl betrachtet mehr Menschen an Covid-19 als in fast allen anderen EU-Ländern. In Ungarn mit weniger als zehn Millionen Einwohnern sind täglich mitunter halb so viele Opfer zu beklagen wie in Deutschland mit ca. 83 Millionen Menschen. Weltweit betrachtet sind in Relation zur Bevölkerungszahl nur in Peru wesentlich mehr Menschen an Covid-19 verstorben als in Ungarn oder Tschechien. Sicherlich sind die Menschen dieser Länder nicht gerade stolz auf diese Spitzenposition. Ungarn, Tschechien und auch Polen verzeichnen in Bezug auf die Einwohnerzahl eine wesentlich höhere Mortalitätsrate als Deutschland, Frankreich oder Italien.

Besonders ethnisch ausgegrenzte Gruppen wie die Roma sind von der Pandemie massiv betroffen. Hier gibt es vielfältige Gründe, wie den schlechten Zugang zum ohnehin schon maroden staatlichen Gesundheitssystem, den allgemein wesentlich schlechteren Gesundheitszustand in diesen Bevölkerungsgruppen, aber auch die weitverbreitete Weigerung vieler Roma, Gesundheitsleistungen in Anspruch zu nehmen oder Impfungen entgegenzunehmen. Zudem haben Menschen aus diesen Gruppen einen viel eingeschränkteren Zugang zum Internet, um sich für Impfungen und Testungen anzumelden. Ungarische Sozialwissenschaftler*innen gehen davon aus, dass sich nur ein geringer Prozentsatz der Bevölkerung der Roma impfen lassen will bzw. geimpft wurde.

Mit Blick auf das Gesundheitswesen rächen sich nun nachlässige Öffnungsstrategien und chaotische Verhältnisse in den Kliniken. In allen erwähnten Ländern gelangen das Gesundheitssystem und die Versorgung mit medizinischen Diensten in den Kliniken sehr schnell an die Kapazitätsgrenze. Die Covid-19-Pandemie offenbart in brutaler Art und Weise die sozialpolitischen Fehler der nationalkonservativen Regierungen. Allein Tschechien und Ungarn beklagen Anfang 2022 bereits 36.000 bis 40.000 Todesopfer, in Polen sind es bereits über 100.000 und in der Slowakei bei nur 5,5 Millionen Einwohnern mehr als 16.000 Todesfälle. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse legen nahe, dass diese hohen Sterbezahlen auch durch den hohen Alkohol- und Tabakkonsum sowie die weitverbreitete Fettleibigkeit und die Ernährungsgewohnheiten in diesen Ländern mitverursacht werden, wobei ein eindeutiger Zusammenhang besteht zwischen starkem Übergewicht, Bluthochdruck sowie Herzerkrankungen und der Wahrscheinlichkeit, an einer Covid-19-Erkrankung zu sterben. Daten und Erkenntnisse von Intensivstationen zeigen unmissverständlich diesen Zusammenhang.

Die Impfkampagne stockt gewaltig in Ländern wie Ungarn oder Polen und vor allem in Südosteuropa. Nationalkonservative Regierungen unterschätzen die weiterhin bestehende Gefahr einer völlig aus dem Ruder laufenden Ansteckungs- und Mortalititätswelle. Obwohl Impfangebote zur Verfügung stehen, flacht die Kurve der Impfungen dramatisch ab, gerade mal 55 bis 61 Prozent der Bevölkerung sind in den genannten Ländern zweimal geimpft. In Rumänien oder Bulgarien sind lediglich 40 bzw. 28 Prozent mindestens zweimal geimpft. Allen Wissenschaftler*innen ist klar, dass die Omikron-Variante ein neues Pandemiegeschehen hervorruft und eine niedrige Impf- bzw. Auffrischungsquote unweigerlich zu einer massiven Belastung des ohnehin katastrophalen Gesundheitswesens führen wird.

Sehr beunruhigend ist die Dynamik der Pandemie, denn jetzt landen auf den Intensivstationen, die mit ärztlichem Personal und Pflegekräften chronisch unterversorgt sind, viele Menschen im mittleren Alter, die länger an Corona leiden und die die durchschnittliche Verweildauer auf den Intensivstationen in die Höhe schnellen lassen. Triage findet in den Kliniken unserer Nachbarländer faktisch statt. Die Versäumnisse der letzten Jahre, und dabei ist es völlig egal, unter welcher Regierung dies geschah, rächen sich nun gewaltig, denn die Personalausstattung aufgrund der massiven Abwanderungen von hochqualifiziertem Fachpersonal ist in einem desolaten Zustand. Auch im relativ gut entwickelten Tschechien beobachtet man diese Situation. Die wenigen tapferen im Gesundheitswesen Fachbeschäftigten kämpfen einen Kampf gegen Windmühlen, die der exorbitante Reformstau permanent antreibt. Ein coronabedingter Ausfall von medizinischem Personal würde die ohnehin dramatische Lage noch weiter verschärfen.

Höchst problematisch ist der Umgang der Regierungen in den ostmitteleuropäischen Ländern in Zeiten der Pandemie mit den Medien. Sowohl in Polen als auch in Ungarn herrscht mittlerweile von den Regierungsparteien dominiertes Staatsfernsehen. „Illiberale“ Demokratien ohne kritische Einmischung der Medien sind das erklärte Ziel in diesen beiden Ländern. Die Berichterstattung aus Krankenhäusern wurde in Ungarn per Erlass untersagt. Für Lehrer*innen gilt nun eine Impfpflicht. Auch in Tschechien entspannt sich die Lage in den Kliniken noch nicht, auch wenn das Infektionsgeschehen nun nicht mehr zunimmt. Trotzdem weist Tschechien weltweit eine der höchsten Todesraten in Verbindung mit Covid-19 auf. Nicht einmal in den USA, Brasilien oder Großbritannien ist die Todesrate bezogen auf die Einwohnerzahl so hoch wie in Tschechien oder Ungarn.

Ähnlich wie in anderen Ländern führt die Tatsache, dass immer mehr jüngere Patient*innen längere Zeit intensivmedizinisch behandelt werden müssen, zu einer Auslastung der medizinischen Versorgung an der Kapazitätsgrenze. In der besonders betroffenen Slowakei verursachte die Covid-19-Pandemie ganz nebenbei ein politisches Erdbeben und den Sturz der Regierung von Ex-Ministerpräsident Igor Matović wegen einer eigenmächtigen und nicht abgestimmten Bestellung des in der EU nicht zugelassenen Impfstoffs Sputnik V aus Russland. Der neue Ministerpräsident Eduard Heger sieht sich weiterhin gewaltigen Herausforderungen gegenüber. Bleibt auch für die Länder Ostmitteleuropas wie für andere Länder zu hoffen, dass das effektive Impftempo sowie die Durchseuchung der Gesellschaft mit der Omikron-Variante bei milderen Verläufen schnell zu einer Herdenimmunität im Frühjahr 2022 führen, um den Kollaps in den Kliniken abzuwenden.

Fotorechte: Anna Shvets, https://www.pexels.com/de-de/foto/hande-erde-festhalten-umwelt-4167544/