Weder Sieger noch Verlierer

Dr. Zbigniew Wilkiewicz

Bis vor kurzem schien ein militärischer Sieg der Ukraine gegen Russland unvorstellbar. Für die meisten Beobachter, selbst für die in der Regel am besten informierten amerikanischen und britischen Dienste, war es überraschend, dass die ukrainische Armee den russischen Angriff auf Kiew zurückzuschlagen konnte.

Seit Mitte April haben die Russen nun ihre Offensive im Donbass gestartet – und kommen nicht so recht weiter. Selbst das Asow-Stahlwerk in Mariupol ist noch immer nicht eingenommen, trotz anhaltender Luftangriffe und trotz massiver maritimer Bombardierung sowie wütender Panzerangriffe auf die sich verzweifelt wehrenden ukrainischen Verteidiger. Im Umland von Charkiw machen die ukrainischen Verteidiger sogar wieder Boden gut und erobern von den Russen eingenommene Ortschaften zurück.

Entsprechend „bescheiden“ fiel denn auch die Siegesfeier zum 9. Mai in Moskau aus. Einige Experten hatten befürchtet, Putin würde eine Ausweitung des Krieges durch Generalmobilmachung ankündigen oder sogar eine direkte Konfrontation mit der NATO wagen. Dabei wurde unterschätzt, wie stark die russische Armee geschwächt ist und dass eine Generalmobilmachung von den Russen/innen als Eingeständnis russischer Schwäche oder gar russischer Niederlagen gewertet werden würde. Dieses Risiko wollte Putin dann doch nicht eingehen. Also blieb er bei der dreisten Mär von der begrenzten Sonderoperation gegen die Ukraine, zu der man aufgrund des aggressiven Verhaltens des Westens gezwungen worden sei.

Von den zunächst selbstbewusst verkündeten russischen Kriegszielen Demilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine sowie Regime-Austausch war nicht mehr die Rede, sondern vom Donbass. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine wurde in eine Selbstverteidigung Russlands gegen die USA und ihre NATO-Vasallen umgedeutet. Von atomaren Schlägen oder gar einer direkten militärischen Konfrontation mit der NATO war in Putins Ansprache nichts zu hören. Das bedeutet aber nicht, dass Putin von seinen ursprünglichen Kriegszielen abgerückt ist. Der Versuch, die Ukraine nicht nur vom Asowschen sondern auch vom Schwarzen Meer abzuschneiden und einen Landweg bis nach Transnistrien zu schaffen, hält weiter an. Deutliche Belege hierfür sind der Raketenbeschuss von Odessa oder die schweren Kämpfe um die strategisch wichtige Schlangeninsel. Der Traum von der Wiederinbesitznahme „Neurusslands“ ist noch lange nicht ausgeträumt. Und die Vorstellung, die Ukraine vollständig zu besetzen, bleibt weiterhin Kriegsziel Nummer 1, man ist nur nicht in der Lage es zeitnah umzusetzen. Das Ziel die NATO zu destabilisieren und aus Mittelosteuropa zu verdrängen ist ebenfalls deutlich verfehlt worden, was nicht bedeutet, dass es von Putin aufgegeben wurde.

Die zwischenzeitlich von ukrainischer Seite gemachten Kompromissvorschläge, inklusive einer Neutralität bei entsprechenden Garantien westlicher Schutzmächte, blieben von Putin unbeachtet. Ebenso wie die Bereitschaft Kiews, zukünftig auf einen NATO-Beitritt zu verzichten. Dabei ist allerdings auch unverkennbar, dass Kiew an seinem ursprünglichen Kriegsziel, der durch das Völkerrecht gedeckten Wiederherstellung der ukrainischen staatlichen Integrität, inklusive der Krim, festhält.

All diese Umstände, vor allem aber das Stocken der russischen Offensive, haben dazu geführt, dass sich einige westliche Führungspolitiker etwas offenherziger zu den westlichen Kriegszielen geäußert haben. Am deutlichsten tat dies der amerikanische Verteidigungsminister Lloyd Austin in Kiew, als er feststellte, dass eine entsprechend ausgerüstete Ukraine diesen Krieg gewinnen könne und hervorhob, dass Russland inzwischen viele militärische Fähigkeiten und Soldaten eingebüßt habe. Wörtlich fügt er hinzu: „Wir wollen, dass Russland so weit geschwächt wird, dass es zu so etwas wie dem Einmarsch in die Ukraine nicht mehr in der Lage ist.“ Zwar führte Austin nicht weiter aus, wie dies konkret zu geschehen habe, allerdings verdeutlichen die zuletzt ergriffenen, sehr entschiedenen Maßnahmen der amerikanischen Regierung zur Unterstützung der Ukraine (Lent und Lease-Act 2022, der den Senat einstimmig passierte und im Repräsentantenhaus nur auf 10 Gegenstimmen stieß, darüber hinaus 40 Mrd. US-Dollar militärischer und humanitärer Hilfe für die Ukraine sowie eine weitere Verschärfung der Wirtschaftssanktionen gegen Russland) die Entschlossenheit der Biden-Administration, der Ukraine zu einem militärischen Sieg zu verhelfen und ihr ein staatliches Überleben zu sichern. (Reinhard Müller: Was heißt hier Sieg? Wie sich die Ukraine wehren darf und wie es weiter gehen könnte. In: FAZ, 03.05.22, S. 8)

Ähnlich äußerte sich die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, indem sie am 4. Mai vor dem EU-Parlament in Straßburg schlicht formulierte: „Wir wollen, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnt.“ Zuvor hatte von der Leyen über das von der EU vorbereitete Embargo gegen russisches Erdöl und das EU-weite Verbot von drei russischen Staatssendern informiert.

Da hatte sich Olaf Scholz zuvor etwas verhaltener ausgedrückt, indem er kundtat, dass Russland nicht gewinnen und die Ukraine nicht verlieren dürfe. Woraus sich für mich die Frage ergibt, ob derjenige, der nicht gewinnt, nun der Verlierer, und derjenige der nicht verliert, der Sieger ist? Der Charme dieser Formulierung des Bundeskanzlers besteht darin, dass sie uneindeutig ist und viel Raum zu unterschiedlichen Interpretationen lässt. Olaf Scholz legt sich quasi fest, aber tut es nicht eindeutig. Ähnlich in seiner mit Spannung erwarteten Ansprache vom 8. Mai 2022, in der er formulierte: „Einen russischen Diktatfrieden soll es nicht geben. Den werden die Ukrainerinnen und Ukrainer nicht akzeptieren – und wir auch nicht. Selten standen wir mit unseren Freunden und Partnern so geschlossen und geeint da wie heute. Ich bin zutiefst überzeugt: Putin wird den Krieg nicht gewinnen. Die Ukraine wird bestehen.“

Immerhin vertritt Scholz die Auffassung, dass Russland der Ukraine keinen Frieden wird aufzwingen können und dass Putin den Krieg nicht gewinnen werde. Wenn Putin diesen Krieg aber nicht gewinnt, dann ist er wohl der Verlierer? Und dann muss man sich allerdings fragen, warum der Bundeskanzler das nicht ausspricht? Ist aber Putin der Verlierer dieses Krieges, dann ist die Ukraine (und damit der sie unterstützende Westen) doch wohl der Gewinner? Und wie soll man die sehr vage, fast zaghafte Formulierung „Die Ukraine wird bestehen“ verstehen?

Scholz ist ähnlich unkonkret wie Austin und von der Leyen, nur vorsichtiger. Ob das Angst vor Putins Atomkriegsdrohungen ist, wie ihm von seinen Kritikern vorgeworfen wird, genährt von der Sorge, dass er sich in seinem Amtseid verpflichtet hat, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden? Oder nur Um- und Vorsicht angesichts der Nichtvorhersehbarkeit der militärischen und wirtschaftlichen Entwicklung? Wohl beides.

Wie auch immer, im Unterschied zu Austin und von der Leyen nennt Scholz keine konkreten Kriegsziele, sondern äußert lediglich Überzeugungen. Damit fällt er hinter die wesentlich stärkeren Desiderate von Austin und von der Leyen zurück und bringt zum Ausdruck, dass Deutschland weiterhin nicht bereit ist, eine aktivere Rolle bei der Unterstützung der Ukraine zu übernehmen. Dies deckt sich auch mit den Hilfszusagen des Bundeskanzlers an die Ukraine, die nur einen Bruchteil dessen ausmachen, was die USA und die EU bereit sind zu tun. Ob dies der Rolle der Bundesrepublik angemessen ist, bleibt diskutabel.

Sicherlich ist hingegen jetzt schon klar, dass es in diesem von Russland verursachten Vernichtungskrieg, den es nicht nur gegen die Ukraine, sondern gegen die gesamte westliche Welt führt, weder Sieger noch Verlierer geben wird. Ein Wiederaufbau der in großen Teilen von Russland zerstörten und ausgeraubten Ukraine wird Jahrzehnte erfordern und eine enorme Kraftanstrengung des Westens erfordern. Von den Kriegstoten und -versehrten Ukrainern/innen und den millionenfach heimatlos gewordenen, traumatisierten Menschen ganz zu schweigen. Dazu bedarf es der uneingeschränkten Solidarität der westlichen Welt, denn eine wie auch immer „bestehende“ Ukraine wird nur dann überleben, wenn Russland in diesem Krieg militärisch zurückgedrängt und durch verschärfte Sanktionen im Energiesektor so stark geschädigt wird, dass es zu echten Friedensverhandlungen bereit ist.

Unabhängig davon ist Putins Reich bereits jetzt dabei, nicht nur diesen widersinnigen, unbarmherzig geführten Vernichtungskrieg gegen die Ukraine zu verlieren, sondern seine eigene Zukunft in fast allen Bereichen des zivilisierten internationalen Zusammenlebens auf unabsehbare Zeit zu verspielen.