Dr. Zbigniew Wilkiewicz
Nach einer langen Zeit des Verschweigens und Verdrängens gelang es in der Ukraine erst nach der Orangenen Revolution (2004), wichtige Bestandteile der ukrainischen Geschichte ins Bewusstsein der Gesellschaft zurückzuholen und öffentlich zu verankern. Dies vollzog sich gegen große Widerstände innerhalb des Landes, besonders bei jenen Parteien und Interessengruppen, die ein enges Verhältnis zu Russland pflegten und an dessen Fortsetzung interessiert waren.
Bekanntlich wurden die Orangene Revolution und ihr Repräsentant, der anlässlich des Präsidentschaftswahlkampfs durch einen Giftanschlag entstellte, nach dem nachgewiesenen Wahlbetrug Wiktor Janukowytschs aber schließlich per Stichwahl doch zum Präsidenten gewählte Wiktor Juschtschenko, vom Westen unterstützt und von der Russischen Föderation mit allen erdenklichen Mitteln bekämpft.
Er war es, der dafür sorgte, dass das ukrainische Parlament im Jahre 2006 die von Stalin durch die brutale Zwangskollektivierung der Landwirtschaft 1931/32 initiierte Hungersnot, der allein in der Ukraine etwa vier Millionen Menschen zum Opfer fielen, als Völkermord verurteilte. Inzwischen gibt es in allen Gebietshauptstädten der Ukraine Denkmäler, die an die Opfer dieses bewusst herbeigeführten Hungers und Massensterbens erinnern. 2008 wurde in Kiew das Nationalmuseum zum Holodomor-Völkermord eröffnet. Überdies wurde in der Regierungszeit Juschtschenkos das Institut für Nationale Erinnerung begründet, welches sich der Dokumentation und Information über den Holodomor und andere politische Repressionen widmen sollte. Nach der Abwahl Juschtschenkos und dem Machtantritt des russlandfreundlichen Janukowytsch wurde es allerdings aufgelöst.
Erst nach den Ereignissen des Euro-Majdans, der Flucht Janukowytschs nach Russland, der Annexion der Krim und der Besetzung von Teilen der Ostukraine durch Russland setzte unter dem neu gewählten Präsidenten Petro Poroschenko eine entschiedene Auseinandersetzung mit der sowjetischen Vergangenheit und eine umfassende Lustration ein, wodurch in Folge des im Oktober 2014 erlassenen „Gesetzes zur Säuberung des Regierungsapparats“ zahlreiche Janukowytsch-Funktionäre ihre Posten verloren. Das Institut für Nationale Erinnerung wurde wiedereröffnet und übernahm die Archive des Sicherheitsapparats.
In weiteren Gesetzen wurden die Kämpfer für die ukrainische Unabhängigkeit, die sich als Partisanen der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA) noch lange nach 1945 der Sowjetisierung des Landes widersetzt hatten und deshalb totgeschwiegen oder in der offiziellen sowjetischen/russischen Geschichtsschreibung pauschal als „Faschisten“ diffamiert wurden, rehabilitiert. Außerdem wurde die staatliche Erinnerung an den Beginn des Zweiten Weltkriegs vom Jahr 1941 (wie in der Sowjetunion und der Russischen Föderation weiterhin verbindlich) auf das Jahr 1939 gelegt, was im krassen Widerspruch zu dem in der Russischen Föderation gepflegten Gedenken und der von Putin betriebenen „Geschichtsauslegung“ steht, in der die Komplizenschaft der UdSSR mit dem Dritten Reich geleugnet wird. (Hubertus Knabe: Abschied von der Vergangenheit. In: FAZ, 26.11.22, S.18)
Der Holodomor wird in der westlichen Geschichtsschreibung bis heute kontrovers diskutiert, als bewusst initiierte Vernichtungspolitik Stalins gegenüber der besonders aufsässigen ukrainischen Landbevölkerung und der im Rahmen der UdSSR nach mehr Autonomie strebenden ukrainischen Parteikader, oder aber als bewusst herbeigeführte Repression im Rahmen einer im ganzen Land durchgeführten Zwangskollektivierung, der zusätzlich etwa drei Millionen Menschen in anderen Teilen der Sowjetunion (Nordkaukasus, Kasachstan) zum Opfer fielen.
Diese Relativierung im Hinblick auf die ukrainische Zielgruppe des Holodomor überwiegt auch in der russischen Geschichtsschreibung, in der diese gezielt herbeigeführte Katastrophe verharmlost wird, indem sie etwa mit den schlechten Ernteerträgen Anfang der 1930er Jahre begründet wird.
Viel spricht allerdings dafür, dass es der sowjetischen Führung unter Stalin nicht nur um die rücksichtslose klassenkämpferische Kollektivierung der Landwirtschaft zugunsten einer mit allen Mitteln vorangetriebenen Industrialisierung der Sowjetunion ging, sondern auch um die gezielte Entukrainisierung, Russifizierung und Gleichschaltung der Ukraine, die aufgrund ihres enormen landwirtschaftlichen und industriellen Potentials zu einer sowjetischen Musterrepublik aufgebaut werden sollte:
„Das Fazit der dreißiger Jahre war für die Ukraine schrecklich. Erst waren die Bauern terrorisiert und in der Dekulakisierung und Hungersnot dezimiert worden (…). Dann war praktisch die gesamte in den Jahren 1917 bis 1920 und während der Ukrainisierung neu geschaffene ukrainische politische, wirtschaftliche und kulturelle Elite umgebracht oder in Straflager gesteckt worden. Schließlich wurden auch die sprachlich-kulturellen Zugeständnisse zugunsten einer stärkeren Berücksichtigung des Russischen allmählich zurückgenommen. Die ukrainische Nationsbildung der Jahre 1917 bis 1933 wurde damit zum Teil rückgängig gemacht.“ (Andreas Kappeler: Kleine Geschichte der Ukraine. München 2014, S.205).
In dieser Einschätzung Andreas Kappelers, die von zahlreichen Historikern und Rechtsexperten geteilt wird, finden sich mehrere Bestandteile, die der Definition der seit 1948 gültigen UN-Konvention eines Genozids entsprechen und somit den Tatbestand eines am ukrainischen Volk begangenen Völkermords erfüllen. Diese Auffassung wird auf internationaler Ebene aber nicht nur von ausgewiesenen Fachleuten in ganz Europa geteilt, sondern auch weltweit von nicht wenigen Staaten offiziell vertreten (Australien, Ecuador, Estland, Georgien, Kanada, Kolumbien, Lettland, Litauen, Mexiko, Paraguay, Peru, Polen, Portugal, Ungarn, Vatikan).
In Deutschland hat sich der Bundestag erst jüngst dazu entschlossen, den Holodomor als Genozid an den Ukrainern anzuerkennen. Der Resolutionstext, der gemeinsam von der SPD, den Grünen, der FDP und der CDU/CSU erarbeitet wurde, ist rechtzeitig zum 90. Gedenktag des in der Ukraine alljährlich an jedem letzten Novembersamstag begangenen Holodomor- Gedenktags fertig geworden. Die Abstimmung über die Resolution erfolgt am 30. November im Bundestag. Initiator des Antrags ist der Vorsitzende der deutsch-ukrainischen Parlamentariergruppe im Bundestag, Robin Wagener, der mit Recht hervorhebt, dass Putin in der „grausamen und verbrecherischen Tradition Stalins“ stehe. In der Tat geht es der russischen Führung mittels eines beispiellosen Vernichtungskrieges darum, der Ukraine durch Gewalt und Terror die Lebensgrundlagen zu entziehen und das Land zu unterwerfen.
Im Unterschied zu Stalin hat sich Putin aber zu diesem völkermörderischen Programm gegenüber den Ukrainern/innen schon früh bekannt, es offen als Kriegsziel proklamiert – und er handelt danach. Die Verantwortung hierfür fällt auf ihn und Russland zurück, fadenscheinige Verschleierung, Vertuschung, Umdeutung, alternative Fakten, mit denen die Sowjetunion im Falle des Holodomor über Jahrzehnte relativ erfolgreich operierte, dürften im Falle der durch Russland gegenwärtig beabsichtigten Auslöschung der Ukraine nicht mehr fruchten. Zu erdrückend und offenkundig ist die Last der Beweise für anhaltende russische Kriegsverbrechen, besonders drastisch im jüngst befreiten Cherson, wo die russischen Besatzer über Monate eine gezielte Terrorherrschaft errichteten und bemüht waren, die Stadt vor ihrem Abzug dem Boden gleichzumachen. (Robert Putzbach: Verbrannte Erde. In: FAZ, 26.11.22, S.5)
Mit der Holodomor-Resolution im Deutschen Bundestag solidarisiert sich das deutsche Parlament mit den Ukrainern/innen und bezieht nicht nur im Hinblick auf die nunmehr vor neunzig Jahren gezielt herbeigeführte Hungersnot eindeutig Stellung, sondern stellt auch einen aktuellen Zusammenhang zum gezielten russischen Vernichtungskrieg in der Ukraine her. Es wäre durchaus plausibel, wenn dieser Krieg, in dem die Ukraine offenbar endgültig entvölkert werden soll, in nicht allzu ferner Zukunft von großen Teilen der Weltgemeinschaft ebenfalls als Genozid eingestuft wird.