Dr. Zbigniew Wilkiewicz
In den letzten Wochen ist es um deutsche Initiativen hinsichtlich der Ukraine auffallend still geworden. Auch die Vorstöße von Frau Strack-Zimmermann und der Union in den Wochen zuvor, die Ukraine endlich mit Panzern deutscher Bauart zu versorgen, zumal demnächst mit einer ukrainischen oder aber auch russischen Winteroffensive zu rechnen ist, sind seltener geworden. Zuletzt meldete sich die Schattenverteidigungsministerin der FDP im Zusammenhang mit dem Besuch Selenskyjs in Washington zu Wort, als die amerikanische Zusage erfolgte, der Ukraine amerikanische Patriot-Systeme zu liefern.
Allein, weder die Vorstöße von Frau Strack-Zimmermann noch die Vorschläge von Michael Roth (SPD), in Übereinstimmung mit dem European Council on Foreign Relations (ECFR) in Abstimmung mit 13 NATO-Partnern, die über Leopard-Panzer verfügen, als „Konsortium“ zu liefern, fanden das Gehör des Bundeskanzlers und der SPD, die diesbezüglich weiterhin auf der Bremse steht.
Im Gegenteil, auch noch nach über zehn Monaten eines brutalen und völkerrechtswidrigen Angriffskriegs und keinerlei Bereitschaft zu ernsthaften Verhandlungen auf Putins Seite, der noch immer an seinen maximalen Kriegszielen festhält, beklagt der Fraktionsvorsitzende der SPD, Rolf Mützenich, dass die Möglichkeit, Verhandlungen aufzunehmen, zu wenig genutzt werde.
Ähnlich argumentieren mit mehr oder weniger Ostexpertise ausgestattete Akademiker wie Prof. Johannes Varwick, der „kluge Diplomatie“ einfordert oder der emeritierte Strafrechtler Prof. Reinhard Merkel, der jüngst in einem gelehrigen Artikel über bellum iustum, ius ad bellum, ius in bello und ius post bellum u.a. zum Ergebnis kommt, dass ein Angriff der Ukraine auf die Krim illegitim wäre, und in diesem Kontext die kühne und unbelegte Behauptung aufstellt, dass die Bewohner der Krim sich als Russen fühlen und schon lange vor 2014 den staatsrechtlichen Wechsel gewollt hätten. Auch fordert Merkel von der Führung der Ukraine ein, sich angesichts der Vernichtung des eigenen Landes und des Leids seiner Bürgerinnen und Bürger „moralisch proportional“ zu verhalten, denn „noch immer auf die Fortsetzung der Gewalt zu dringen und jede Verhandlung über deren Ende abzulehnen“, sei „nicht tapfer, sondern verwerflich.“ (Reinhard Merkel: Verhandeln heißt nicht kapitulieren. In: FAZ, 28.12.22, S.12) Wir erinnern uns, denn ähnliche Argumente wurden von den deutschen Generälen Erich Vad und Harald Kujat ins Feld geführt, aber auch von führenden deutschen Intellektuellen wie Harald Welzer und Richard Precht, die die Ukraine vor einigen Monaten im Grunde genommen dazu aufforderten zu kapitulieren.
In der Tat haben wir es hier ganz offensichtlich mit einer Argumentation zu tun, die nur wenig Empathie mit der um ihre bloße Existenz ringenden Ukraine aufweist und der russischen Propaganda in die Karten spielt. (Klaus Wittmann: Unterlassene Hilfeleistung: Westfalen-Blatt, 30.12.22, S.5; Nikolai Klimeniouk: Apologeten der Kapitulation. In: FAZ, 31.12.22, S.16).
Angesichts der offensichtlichen Fehler der deutschen Ost- und Russlandpolitik nach dem Zusammenbruch der UdSSR ist es aber längst an der Zeit, von überkommenen, lange nicht hinterfragten und komfortablen Denk- und Argumentationsweisen Abstand zu nehmen und gerade in Deutschland eine langfristige Strategie im Hinblick auf den Umgang mit der Ukraine und Russland zu entwickeln.
Hilfreich erweist sich in diesem Zusammenhang eine von Wilfried Jilge und Stefan Meister verfasste Analyse, in der u.a. sechs Grundprinzipien deutscher Ostpolitik seit 1990 benannt werden, die sich als kontraproduktiv erwiesen haben und hier sinngemäß und um eigene Überlegungen ergänzt wiedergegeben werden:
Die von deutschen Eliten lange betriebene „Russia first“-Politik hat dazu geführt, dass Deutschland seine Außenpolitik gegenüber Osteuropa zu sehr an der Berücksichtigung russischer Interessen ausgerichtet und die Sicherheitsinteressen anderer postsowjetischer Staaten zu wenig berücksichtigt hat.
Auch am Mythos vom sog. „Wandel durch Annäherung“ wurde viel zu lange festgehalten. Dabei habe die wirtschaftliche Kooperation zwar Vorteile für große deutsche Industriekonzerne gebracht, aber im Ergebnis vor allem das Regime in Moskau gestärkt, zivilgesellschaftlich wenig bewirkt (siehe den bereits früh gescheiterten „Petersburger Dialog“) und für einen Normentransfer in die andere Richtung gesorgt.
Ähnliches gilt für die lange aufrechterhaltene Formel von der „Interdependenz und Verflechtung als Garantie für Frieden“, die nur sehr begrenzt funktionierte. Denn trotz enormer und gesteigerter energiepolitischer Verflechtung mit Russland wurde kein politisches Vertrauen aufgebaut und der nun seit über zehn Monaten gegen die Ukraine geführte Vernichtungskrieg nicht verhindert. Im Gegenteil, Deutschland hat sich in zunehmendem Maße abhängig und erpressbar gemacht.
Auch die noch sehr lange besonders von Frank-Walter Steinmeier vertretene These, dass Sicherheit nur mit und nicht gegen Russland möglich sei, erwies sich als Chimäre und wurde von der russischen Regierung bereits seit dem Machtantritt Putins wiederholt ad absurdum geführt. Moskau hatte kein Interesse an kollektiver Sicherheit und zielte mit seiner aggressiv revisionistischen Politik darauf ab, Einflusssphären anerkannt zu bekommen, auf die es nach dem Zusammenbruch der UdSSR in mehreren Vertragswerken ausdrücklich verzichtet hatte. So führte die von Deutschland betriebene Politik der Einbindung nicht zu mehr, sondern zu weniger Sicherheit.
Die Vernachlässigung der Geo- und Sicherheitspolitik zugunsten der Wirtschaft war ein besonderer Markenkern deutscher Ostpolitik nach 1990 und erwies sich im Ergebnis als wenig effektiv. Da man den vor allem nach dem Machtantritt Putins betriebenen geopolitischen Wettbewerb (besonders um die Ukraine) selbst nach der völkerrechtswidrigen Besetzung der Krim nur schwach sanktionierte und durch die Planung von Nord Stream 2 quasi ignorierte, die Warnungen mittelosteuropäischer Verbündeter und der USA in den Wind schlug, den seit über acht Jahren von Russland geschürten Konflikt in der Ostukraine quasi ausblendete, konnte man nicht verhindern, dass Putin seine revisionistische Politik mit dem nunmehr großangelegten Überfall auf die gesamte Ukraine fortsetzt.
Die lange und gerne vertretene These, dass die unbestreitbare historische Verantwortung für die im Zweiten Weltkrieg in der Sowjetunion begangenen Verbrechen eine Russland-Kritik verbiete, blendet aus, dass es besonders in den postsowjetischen Staaten Belarus und Ukraine enorme Opferzahlen deutschen Terrors gab. Die über Jahrzehnte in der deutschen Öffentlichkeit betriebene Gleichsetzung sowjetischer mit russischen Opfern war weder historisch noch politisch zu rechtfertigen, bildet(e) aber ein quasi moralisches Argument für die in Deutschland in Wirtschaft, Wissenschaft, Verwaltung und Politik weiterhin sehr starke Russlandlobby, die auch noch heute nur wenig (mentale) Bereitschaft zeigt, sich den neuen Erfordernissen der „Zeitenwende“ zu stellen.
Insofern stimme ich der folgenden Schlussfolgerung der beiden Experten der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (Jilge und Meister) ausdrücklich zu und verweise im Übrigen auf den untenstehenden Link, über den man an den Gesamttext dieser lesenswerten Analyse gelangt:
„Das Vermächtnis aus Deutschlands Schuld am Zweiten Weltkrieg wird nicht nur mit der Formel nie wieder Krieg in Europa, sondern auch nie wieder Auschwitz umschrieben. Dies bringt Deutschland in eine besondere Verantwortung gegenüber der Ukraine, gegen die Russland einen brutalen Angriffskrieg führt, der auf die Auslöschung der ukrainischen Identität abzielt. Hier nicht oder nur zögerlich zu handeln und dies mit dem Einsatz für Frieden in Europa und der Verantwortung gegenüber Russland zu begründen, wird der eigenen Verantwortung nicht gerecht. Indem die russische Führung die Ukraine als Staat und Gesellschaft vernichten möchte und das eigene Land in einen totalitären Staat verwandelt, hat Deutschland eine besondere (historische) Verantwortung, diesen Entwicklungen entschieden entgegenzutreten und dabei auch eine Führungsrolle in Europa zu übernehmen. Nie wieder Faschismus in Europa bedeutet auch, gegen die faschistischen Tendenzen in der aktuellen russischen Politik vorzugehen.“