Dr. Zbigniew Wilkiewicz
Jewgenij Prigoschin, Hauptcondottiere Russlands, greift wichtige Würdenträger Putins dreist an. Der sieglose und sehr blutige „Nicht-Krieg“ Putins wird früher oder später zur Abrechnung mit den Sündenböcken führen, die man für die militärischen Misserfolge verantwortlich macht. Jewgenij Prigoschin, Chef der Wagner-Gruppe, hat bereits damit angefangen, ohne Rücksicht auf die Ränge derjenigen, die er angreift.
Kürzlich haben Frontoffiziere der Wagner-Gruppe, die an dem seit über fünf Monaten erfolglosen Sturm auf das vor dem Krieg 70.000 Bewohner zählende Städtchen Bachmut im Gebiet Donezk teilnehmen, den Generalstabschef und russischen Oberbefehlshaber in der Ukraine, General Walerij Gerassimow, auf vulgäre Weise verunglimpft. In einem im Internet öffentlich zugänglichen Film stehen sie vor einem hinter einem Tarnnetz verborgenen Geschütz und klagen, dass sie den an der ersten Frontlinie sterbenden Kameraden keinen Feuerschutz geben können, weil ihnen der Stab keine Munition liefere. Gerassimow sei für sie deshalb nichts anderes als ein „Päderast“.
Die Moskauer Propaganda versuchte den zahlreichen russischen Usern weiszumachen, dass dieses Beispiel für ordinäre Disziplinlosigkeit ein ukrainischer Propaganda-Fake sei. Umsonst, denn Prigoschin fuhr höchstpersönlich nach Bachmut, gab den Offizieren der Wagner-Gruppe recht und kritisierte das Verteidigungsministerium aufgrund seiner Unfähigkeit und fehlenden Unterstützung für die an der Front kämpfenden Menschen scharf.
Prigoschin steht seit langem mit den Generälen und persönlich mit Verteidigungsminister Sergej Schojgu im Konflikt, nicht nur wegen des Streits um die Art der Kriegsführung. Die Militärs versuchen ihm konsequent die lukrativen Verträge für den Bau und die Bewirtschaftung von Kasernen sowie die Verpflegung der Armee wegzunehmen – Aufträge, die er auf Anordnung Putins, den er noch aus Leningrader Zeiten kennt, erhalten hat.
Prigoschin hat sich auch in gehässiger Weise über den stellvertretenden Sekretär des Sicherheitsrats der Russischen Föderation Dmitrij Medwedew lustig gemacht. Der ehrgeizige und rachsüchtige Expräsident hatte zu Jahresbeginn prognostiziert, dass Polen und Ungarn die westlichen Gebiete der Ukraine annektieren werden, die EU zerfallen, in den USA ein Bürgerkrieg ausbrechen und ein Barell Erdöl 150 Dollar kosten werde. In der ordinären Reaktion Prigoschins hierauf konnte Medwedew nachlesen, dass er sich wohl „erotischen Phantasien“ hingegeben habe.
Da es Prigoschin an politischer oder administrativer Unterstützung fehlt, ist er im Machtkampf mit wichtigen Repräsentanten des Staates wohl chancenlos. Diese Ansicht vertritt zum Beispiel Aleksej Wenediktow, Ex-Chefredakteur des von den Behörden verbotenen Radios „Echo Moskau“. Er geht davon aus, dass die intriganten Höflinge den Ex-Kriminellen (Prigoschin hat wegen krimineller Delikte neun Jahre hinter Gittern verbracht), der vom Kreml für dunkle Aufgaben benutzt wird, die Moskau nur inoffiziell durchführen kann (etwa die schmutzigen Kriege um Bodenschätze in Afrika), unschädlich machen werden. Aber Prigoschin ist nicht ganz so isoliert. Mehr oder weniger offen wird er von dem mit den Generälen und der Verwaltung im Streit liegenden Ramzan Kadyrow, dem Diktator Tschetscheniens, unterstützt. Hinter ihm steht auch Viktor Solotow, sein einstiger Gönner und Oberbefehlshaber der mächtigen Nationalgarde (des 340.000 Mann starken Korps der Inneren Truppen). Auch hat er eine große Fangemeinde von „Kriegskorrespondenten“, die die militärischen Oberbefehlshaber rücksichtslos kritisieren, unterstützt wird er auch von den ultrakonservativen und ultranationalistischen Intellektuellen des Isborsk-Klubs, der 2012 von dem Publizisten Alexander Prochanow gegründet wurde. All diese Menschen verbindet die Kritik an der Armeeführung, die Idee einer allgemeinen Mobilmachung der Bevölkerung und der gesamten Wirtschaft in der Auseinandersetzung mit dem „kollektiven Westen“ und die Transformation der aktuellen Kriegsführung in eine gänzlich totale und noch erheblich grausamere.
Diese Superfalken gewinnen in Russland systematisch an Einfluss. Die Moskauer „Nesavissimaja Gaseta“ veröffentlicht seit Jahren monatlich eine Liste mit den „100 führenden Politikern Russlands“, die zutreffend das Auf und Ab der politischen Karrieren im Lande widerspiegelt. In der Liste für Dezember 2022 gibt es folgende Platzwechsel. Zum ersten Mal taucht auf ihr Prigoschin auf, und zwar auf Position 86 (also vor den Führern der in der Duma vertretenen drei Parteien). Kadyrow ist von Platz 52 Platz auf Platz 46 vorgerückt (und hat den Kommunistenchef Gennadij Sjuganow überholt). Solotow von Platz 30 auf Platz 28. Und um 12 Plätze auf der Liste (von 88 auf 76) ist der Gouverneur von Tula Aleksej Djumin vorgerückt, der ebenfalls zu den Superfalken zählt als einer der potenziellen Kandidaten für die Nachfolge Putins gilt. (Wacław Radziwinowicz: Der Kampf der Kreml-Bulldoggen kommt unter dem Teppich hevor. Angeführt vom Chef der Wagner-Gruppe In: Gazeta Wyborcza, online,04.01.2023).
Zwischenzeitlich wurde Prigoschin bekanntlich zurückgepfiffen und von den Vertretern des russischen Verteidigungsministeriums ausgebremst. Denn kurz vor der Einnahme des schwer umkämpften Bergbaustädtchens Soledar hatte er den anstehenden Sieg für seine Wagner-Truppe reklamiert und die regulären russischen Einheiten mit keinem Wort erwähnt. Es erfolgte ein kurzer Propagandaschlagabtausch zwischen beiden Lagern, der mit der Absetzung des unlängst von Putin berufenen Oberbefehlshabers in der Ukraine, General Surowikin, endete. Dieser hatte für seine systematische Zerstörung ukrainischer kritischer Infrastruktur zunächst viel Applaus von den Befürwortern einer noch brutaleren Kriegsführung – also von Kadyrow, Prigoschin und Igor Strelkow – erhalten. Nach sehr hohen Verlusten russischer Soldaten, die den ukrainischen Verteidigern ihre Stellungen durch Telefonanrufe selbst angezeigt hatten (mehrere Hunderte Tote und Verletzte auf einen Schlag), wurde Surowikin abgesetzt und durch den Generalstabschef Gerassimow ersetzt. Die Kritik der Superfalken und Surowikin-Befürworter folgte auf dem Fuß: Der nationalistische Blogger Girkin überschritt eine bis dahin streng gehütete rote Linie, indem er Putin in Russland offen kritisierte.
Zur Erinnerung: Igor Strelkow alias Girkin, emeritierter Oberst des russischen Militärnachrichtendienstes GRU, der im Jahre 2014 als Oberbefehlshaber der prorussischen Separatisten in Donezk zahlreiche Kriegsverbrechen beging, ist in Russland aktuell einer der angesagtesten Blogger. Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine kritisiert er die russische Militärführung kompromisslos.
Anfänglich zielte Girkin hauptsächlich auf die Generalität, aber seit einiger Zeit wagt er sich weiter vor und teilt auch gegen Putin aus. „Der Präsident vermeidet es seit fast 11 Monaten konsequent, die persönliche Verantwortung für die Aktivitäten der Truppen an der Front zu übernehmen (und nicht ohne Grund sind die Siege der Armeen nicht besonders «häufig»)“ – schrieb er am 13. Januar 2023 auf Telegramm. Und einige Tage später, als Putin General Walerij Gerassimow zum Oberbefehlshaber der russischen Truppen in der Ukraine ernannte, fügte er hinzu: „Der Oberbefehlshaber zieht sich selbst sogar von der formalen Führung der Streitkräfte zurück und übergibt diese Pflichten einem Kretin, der die Kriegsvorbereitungen vollumfänglich in den Sand gesetzt hat“. Damit erinnerte Girkin daran, dass Gerassimow als Generalstabschef der russischen Streitkräfte eine der wichtigsten Rollen bei der Planung der Invasion in die Ukraine spielte und damit faktisch die Verantwortung für die russischen Niederlagen trägt.
Nach diesem Frontalangriff auf die bis dahin „unangreifbare“ Führungsgestalt Putin, um die ein aufwändig betriebener, an die Stalinzeit gemahnender Personenkult betrieben wird, fragt man sich nicht nur in Russland, sondern auch in westlichen Expertenkreisen, wieso Girkin bisher noch nicht in seine Schranken verwiesen wurde. Zumal er seine Kommentare in einer Zeit schreibt, in der der russische Sicherheitsapparat beim geringfügigsten Anzeichen von Kritik am Staat zu drastischen Repressionen greift. Dagegen wird Strelkow und einer Gruppe ihm ähnlicher Blogger, die über den Krieg in der Ukraine schreiben und nun auch Putin offen kritisieren, kein Haar gekrümmt.
Eine mögliche Antwort ergibt sich aus den Ergebnissen einer unveröffentlichten Meinungsumfrage, die vom Kreml beauftragt wurde und an die der britische Thinktank Royal United Services Institute(RUSI) gelangt ist. Die Experten von RUSI haben die darin erhobenen Daten aggregiert, wobei sie ihre Quellen allerdings nicht offenlegten. Es werden somit Trends in der russischen Gesellschaft vorgestellt, ohne konkrete Daten zu nennen. Zusammenfassend wird festgestellt, dass man im Kreml gegenwärtig davon ausgehe, dass sich die russische Gesellschaft in fünf Kategorien einteilen lasse:
„Kosmopoliten“, wofür Personen gehalten werden, die die demokratische Opposition aktiv unterstützen, stellen ca. 12-15 Prozent der Gesellschaft.
„Nihilisten“ – ca. 10 Prozent – die trotz der Kritik an den Aktivitäten des Kremls passiv bleiben. Sie neigen nicht dazu, die Kosmopoliten zu unterstützen.
„Hurrapatrioten“, die zwischen 20 und 25 Prozent der russischen Gesellschaft ausmachen.
Zwei weitere Gruppen werden als „Loyalisten“ und „globale Patrioten“ bezeichnet. Ihre Anteile an der russischen Gesellschaft werden nicht angegeben, es erfolgt nur der Hinweis, dass es sich hierbei um sehr diverse Gruppen handele.
Wie der für RUSI arbeitende britische Experte Jack Watling in seinem Kommentar feststellt, sind die „Hurrapatrioten“ potenziell das größte Problem für Putin. Um seine Macht zu erhalten, muss der Kremlherr ständig seine eigene Kriegsagitation und den von den Superfalken betriebenen Aktivismus, der das Machtmonopol des Kremls bedrohen könnte, ausbalancieren. Je länger der Krieg dauert und seine Kosten steigen, desto schwieriger ist es für Putin, diese Balance zu halten. Denn die Unzufriedenheit der russischen Gesellschaft mit der sich verschlechternden ökonomischen Situation, den fatalen Folgen der Mobilmachung und den aberwitzigen Verlusten an russischen Soldaten steigt.
Die „Hurrapatrioten“ mit ihren extrem nationalistischen und neoimperialistischen Überzeugungen engagieren sich von den oben genannten Gruppen am stärksten für den Krieg in der Ukraine. Sie agieren also im Interesse Putins, der, sollten die Dinge für ihn weiterhin ungünstig laufen, gezwungen sein könnte, sich immer stärker auf sie zu stützen. Andererseits sind sie es, die die russische Führung wegen der Fehler an der Front am schärfsten kritisieren. Eine gefährliche Mischung.
Wie Watling schreibt, ist der Kreml bis jetzt bereit, die Kritik von Seiten der „Hurrapatrioten“ zu tolerieren. Allerdings nur solange, wie sie sich nicht gegen Putin richtet. „Das ist der Rubikon, dessen Überschreitung der Kreml verhindern möchte. Sollte dies aber trotzdem geschehen, dann wird die Kritik an Putin allerdings für all jene Gruppen der russischen Eliten möglich sein, die besonders unzufrieden sind“ – stellt Watling fest. Dieser Rubikon wird von Strelkow und einigen anderen aber gerade deutlich überschritten. (Jarosław Marczuk: Warum erlaubt Putin es, dass man ihn in Russland beleidigt? In: Gazeta Wyborcza, online, 03.02.2023)
Sollte die sich jetzt ankündigende russische Großoffensive, die unter enormen Aufwänden und Verlusten vorbereitet wird, als weiterer Flop erweisen, dann würde die bisher unangreifbare und nur in Ansätzen angekratzte Position Putins wohl allmählich weiter ins Wanken geraten. Schon alleine deshalb muss man befürchten, dass die Ukraine in den nächsten Wochen einem noch größeren militärischen Druck und Vernichtungsfuror der russischen Aggressoren ausgesetzt sein wird.