Dr. Zbigniew Wilkiewicz
Bei der edition. Foto TAPETA ist kürzlich ein Buch erschienen, das von den Slawistinnen Aleksandra Konarzewska, Schamma Schahadt und Nina Weller herausgegeben wurde. Der auf den ersten Blick etwas sperrig wirkende Titel und Untertitel „Alles ist teurer als ukrainisches Leben. Texte über Westsplaining und den Krieg.“ verdeutlichen nach kurzer Reflexion recht eindrucksvoll, worum es in diesem vorzüglich edierten und auch für Nichtfachleute gut lesbaren Sammelband geht: um die Problematik einer weit verbreiteten Ignoranz und Besserwisserei zahlreicher westeuropäischer und amerikanischer Intellektueller, darunter auch etlicher deutscher Ost- und Friedensexperten/innen, ganz zu schweigen von den bekennenden Russland- und Putin-Befürwortern aus Politik und Wirtschaft, gegenüber Ukrainern und Ostmitteleuropäern, deren Argumente und Befürchtungen im Hinblick auf ein sich seit zwei Jahrzehnten immer aggressiver und bedrohlicher gebärdendes Russland nicht ernst genommen oder heruntergespielt wurden.
Außer der konzisen Einleitung, in der die Entstehungsgeschichte und der Anspruch dieses Sammelbandes referiert werden, besteht das Buch aus insgesamt 35 Texten, die nach Erscheinungsdatum chronologisch (März bis Dezember 2022) geordnet sind und die von ukrainischen, deutschen, polnischen, belorussischen und russischen, aber auch von einigen englischsprachigen Autoren/innen (u.a. Marci Sore, Timothy Snyder) beigesteuert wurden.
Vertreten sind neben Slawisten/innen, Osteuropahistorikern/innen und Übersetzern/innen auch Filmemacher/innen, Publizisten/innen und Künstler/innen. Aber auch einige namhafte Schriftsteller/innen, die sich besonders in den ersten Monaten des seit dem 24. Februar 2022 in der Ukraine wütenden russischen Vernichtungskriegs in deutschsprachigen Medien (FAZ, NZZ) oder in englischsprachigen Zeitschriften zu Wort gemeldet haben. Etwa Oksana Sabuschko, Szczepan Twardoch oder Serhij Zhadan, die sich inzwischen auch in Deutschland einer gewissen Bekanntheit erfreuen, auch deshalb, weil sie sehr dezidiert und mit unverhüllter Entrüstung und Wut auf den russischen Vernichtungskrieg reagiert haben. In ihren Texten zur russischen Kultur verweisen sie auf das ihr inhärente notorisch imperiale und koloniale Großmachtstreben und decken explizit entsprechende Traditionslinien von Puschkin über Dostojewski und Tolstoj bis hin zur Sowjetliteratur und solchen im Westen gefeierten Dissidenten wie Solschenizyn und Brodskij auf. Ein Thema, das in der westlichen Slawistik und Literaturwissenschaft im Unterschied zu den Forschungen ostmitteleuropäischer Wissenschaftler/innen kaum behandelt wurde, aber gerade jetzt immer mehr an Bedeutung gewinnt.
Im Hinblick auf Osteuropa nahm man im Westen – besonders in Deutschland – in Wissenschaft (Ostslawistik, Osteuropakunde mit eindeutigem Schwerpunkt Russland), Wirtschaft (Nord Stream I und langes Festhalten an Nord Stream II) und Politik (Deutscher Sonderweg, mit dem bis kurz vor Kriegsausbruch gepflegten Mythos vom „Wandel durch Verflechtung“ und einer vermeintlichen „Modernisierungspartnerschaft“) eine fast ausschließlich um Russland bemühte Haltung ein. Hingegen spielten die ukrainische Geschichte und Kultur eine ähnlich untergeordnete Rolle wie die der Esten, Letten, Litauer, Kroaten, Serben, Polen, Tschechen, Slowaken, Rumänen und Ungarn. Auch der Entwicklung der ukrainischen Zivilgesellschaft in Richtung EU sowie ihre dramatischen Emanzipationsversuche von Russland (Orangene Revolution, Majdan) sowie dem seit 2014 anhaltenden Krieg in der Ostukraine wurde nach erster medialer Aufregung und anschließender politischer Beschwichtigung relativ wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Es überwogen Stereotype, in denen gerne auf den in der Ukraine angeblich grassierenden Nationalismus und eine überbordende Korruption abgehoben wurde. Nicht selten folgte man auch der von Russland breit lancierten Narration von der Nicht-Existenz eines eigenständigen ukrainischen Volkes und Staates.
Die Erinnerung an den Hitler-Stalin-Pakt, an die völkermörderischen NS- und Sowjet-Okkupationen sowie die nach der Friedensordnung von Jalta Jahrzehnte währende Unterdrückung durch die Sowjetunion ist in der Ukraine und in Ostmitteleuropa indessen besonders wach geblieben. Und selbst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und den Mitgliedschaften in EU und NATO fühlte man sich durch den russischen Revisionismus bedroht und blieb das Trauma eines Zusammengehens Deutschlands und Russlands auf Kosten Ostmitteleuropas unvergessen.
Dies kommt auch im Beitrag der mittlerweile in Deutschland lebenden ukrainischen Schriftstellerin Kateryna Mishchenko zum Ausdruck, auf den der Titel dieser Aufsatzsammlung „Alles ist teurer als ukrainisches Leben“ zurückgeht: In ihrem Ende Mai 2022 veröffentlichten Artikel stellt sie mit Bitterkeit fest: „Irgendwie ist alles teurer als ukrainische(s) Leben. Irgendwie darf die Ukraine nicht gewinnen, auch wenn es nicht laut ausgesprochen wird.“ (S.11) Ihre Enttäuschung über die zögerliche Haltung des Westens (vor allem Deutschlands), bei der Unterstützung der Ukraine in ihrem legitimen Überlebenskampf, spiegelt indes das Unverständnis der meisten in diesem Band versammelten Autoren/innen wider, die durchweg auf eine stärkere Sanktionierung und Ächtung Russlands pochen. Eines Russlands, das in der Ukraine unverhohlen und zynisch Menschenrechte verletzt und das Völkerrecht mit Füßen tritt. Demgemäß misst man den lange abwägenden und zögerlich wirkenden Westen an seinen eigenen Wertevorstellungen, für deren Erhalt hunderttausende ukrainischer Männer und Frauen seit über einem Jahr verzweifelt und mit ungeheurem Mut kämpfen und sterben.
Den untertitelgebenden, oben kurz skizzierten Begriff des Westsplainining, der analog zu dem von Rebecca Solnit in ihrem Essayband „Men Explain Things to Me“ geprägten Begriff des Mansplaining entstand, erläutert der Sozialwissenschaftler Aliaksej Kazharski mittels einer feinen historischen Analyse. Der polnische Schriftsteller Szczepan Twardoch ruft hingegen in seinem am 6. April 2022 in der NZZ erschienenen Aufsatz energisch zu einem „Schluss mit Westsplaining“ auf. Hierin fordert er im Blick auf die weitreichenden Kriegsziele Russlands den Westen auf, die Erfahrungen der Ostmitteleuropäer endlich ernst zu nehmen und ihren Ratschlägen zu folgen. Scharfe Kritik übt er an jenen europäischen und amerikanischen Intellektuellen und Politikern, die als Künder der sog „realistischen Schule“ (Noam Chomsky, Phyllis Bennis, Branko Marcetic) die NATO für die Aggression Russlands, dessen berechtigte Sicherheitsinteressen man zu wenig berücksichtigt habe, verantwortlich mach(t)en. Man dürfe Russland nicht trauen – so die Analyse Twardochs – da es in seiner gesamten Geschichte niemals bereit war, und – so seine düstere Prognose – auch zukünftig niemals bereit sein wird, sein aggressives Großmachtstreben aufzugeben. (S.62)
Ähnlich wie Twardoch fordert auch der polnische Ex-Diplomat Witold Jurasz dazu auf, sich von den im Westeuropa lange gepflegten Russlandmythen zu verabschieden, wobei er die deutsche Russlandpolitik einer scharfen Kritik unterzieht: „Alle polnischen Fehler verblassen jedoch im Vergleich zu dem, wie Deutschland in Russland etwas zu erkennen meinte, was es dort niemals gab, während es völlig blind dafür war, was mit bloßem Auge zu erkennen war. Wovon ich rede, ist der Hass und die Verachtung für den Westen, die Faschisierung der Gesellschaft, der aggressive Nationalismus, die Homophobie und der Rassismus, der Neoimperialismus und der Militarismus. Es ist geradezu peinlich, dass dies alles von den Interessen früherer Stasioffiziere und ihrer Gesprächspartner überspielt wurde.“ Das Versagen der deutschen Ostpolitik lastet Jurasz allerdings nicht der deutschen Aufklärung, sondern der deutschen Gegenspionage an: „Das Problem besteht nämlich nicht darin, wenn wir schon einmal nichts unausgesprochen lassen, dass Deutschland nicht Bescheid gewusst hätte. Das Problem besteht darin, dass bestimmte Politiker Bescheid wussten und dennoch genau diese Politik betrieben, während die deutsche Gegenspionage sich nicht fragte, wieso sie dies taten.“ (S.74)
Hier geht es also nicht mehr allein um den Vorwurf der Naivität und Ahnungslosigkeit gegenüber Russland und Putin, sondern es wird eine an puren Wirtschaftsinteressen orientierte, die Interessen der Ukraine und etlicher ostmitteleuropäischer Partnerländer ignorierende Komplizenschaft zwischen Deutschland und Russland in den Raum gestellt. In diesem Kontext sei an zwei kürzlich erschienene Publikationen erinnert, die dieser Problematik profund nachgehen und eine gute Basis für die noch ausstehende Aufarbeitung der deutschen Ostpolitik darstellen: Michael Thumann: Revanche. Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat. München 2023; Reinhard Bingener, Markus Wehner: Die Moskau Connection. Das Schröder-Netzwerk und Deutschlands Weg in die Abhängigkeit. München 2023.
Mit dieser Einschätzung stehen die hier zitierten ukrainischen und polnischen Kritiker am Westsplaninig allerdings nicht allein. Denn es sind auch einige Beiträge deutscher Osteuropaexperten und Publizisten in diesen Band eingegangen, die sich in den letzten Monaten zum Teil bestürzt und fassungslos, aber in erster Linie tief beschämt über die Aufrufe deutscher Intellektueller zu „Friedens- und Gesprächsinitiativen“ geäußert haben, wobei nicht selten eine ignorante Opfer-Täter-Umkehr betriebe wurde, in Talkshows die „berechtigten Sicherheitsinteressen“ Russlands ins Spiel gebracht wurden und man sich gegen Waffenlieferungen an die Ukraine aussprach.
Ich denke hier an die Texte von Georg Witte, Marcel Krüger und Felix Ackermann, in denen im Hinblick auf den von Russland in der Ukraine entfesselten Vernichtungskrieg etlichen deutschen Intellektuellen Geschichtsvergessenheit, Selbstgerechtigkeit Empathielosigkeit und Hybris bescheinigt wird. Am eindrucksvollsten wohl in dem Aufsatz „Die deutsche Narbe“ von Felix Ackermann (FAZ, 14. 11.2022)
Das Fazit zu diesen engagierten, klugen und durchweg lesenswerten Texten, die von den Herausgeberinnen vorzüglich für diese Buchpublikation vorbereitet wurden, fällt nicht schwer. Sie sollten zur Pflichtlektüre für all diejenigen werden, die besser verstehen möchten, was seit über einem Jahr in der Ukraine geschieht und wie sich die aberwitzige und durch nichts zu rechtfertigende Aggression Russlands trotz ihrer absurden völkermörderischen Intention und kriegsverbrecherischen Praxis recht schlüssig aus einer tief verwurzelten imperialen Tradition Russlands herleiten lässt. Diese wird seit nunmehr zwei Jahrzehnten von Putin und seinen Propagandisten durch eine die Geschichte und Gegenwart verfälschende Narration immer weiter auf die Spitze getrieben, wobei der Mythos von der Opferrolle eines friedliebenden Russlands, das sich schon immer gegen einen verkommenen und feindseligen Westen verteidigen musste, im Zentrum steht.
Dass das Westsplaining maßgeblich dazu beigetragen hat, die wahren Intentionen Putins auf Kosten der Ukraine herunterzuspielen und zu verharmlosen, wird in den vorliegenden Texten eindrucksvoll dokumentiert. Man kann nur hoffen, dass die Staaten und Gesellschaften des Westens in ihrem ureigensten Interesse aus diesen blamablen und fatalen Fehleinschätzungen die adäquaten Konsequenzen ziehen und die Gefahr erkennen, die ihnen von einem unerbittlichen und unberechenbaren Feind droht.