Kurzer Putsch – langer Krieg

Dr. Zbigniew Wilkiewicz

Bekanntlich ist es äußerst riskant historische Parallelen zu ziehen und daraus Analogschlüsse abzuleiten. Der sowjetische Angriffskrieg gegen Afghanistan dauerte ganze neun Jahre und endete mit einer schmachvollen Niederlage der Sowjetarmee. Sie wird heute in Russland in einen opferreichen sowjetischen Sieg umgedeutet wird, wobei die zahllosen afghanischen Toten dieser erbarmungslosen sowjetischen Aggression kaum Erwähnung finden. Auch nach diesem misslungenen Kolonialkrieg und dem Zerfall der UdSSR war man in Russland nicht bereit, sich diese Niederlage und ihre Ursachen einzugestehen. Ähnlich wie im Falle des Großen Vaterländischen Krieges, dessen mythische Narration von der ausschließlichen Opfer- und Siegerrolle Russlands weiterhin Bestand hat. Sie wird weiterhin geflissentlich gepflegt, gilt es doch auch jetzt der eigenen Bevölkerung und den Sympathisanten in aller Welt einzureden, dass man in Afghanistan einst den terroristischen Islamismus bekämpfte und gegenwärtig in der Ukraine einen Existenzkampf gegen die mit dem Westen verbündeten ukrainischen Faschisten führt.

Da nutzt es auch nichts, dass der gescheiterte Putschist und einstige Intimfreund Putins, der in Weißrussland abgetauchte Chef der Wagner-Gruppe Prigoschin in einem seiner jüngst veröffentlichten aufsehenerregenden Statements deutlich machte, dass dieser Krieg absolut überflüssig sei, sich rational nicht begründen lasse und Russland nur schade. Denn es sieht ganz danach aus, als habe sich das Verteidigungsministerium und die russische Militärführung endgültig gegen den „Koch Putins“ durchgesetzt. Zwar hört man momentan nicht sehr viel von Schojgu und auch der angebliche Mitwisser General Surowikin sowie der Generalstabschef Gerassimow gelten als „verschwunden“, aber ob es in der russischen Armeeführung tatsächlich zu einer nachhaltigen Säuberung kommt, wie einige Experten postulieren, ist bisher nicht belegt.

Klar ist allenfalls, dass der angeschlagene Putin, der in den letzten Tagen eine auffällige Volksnähe zeigt, um seine sinkende Popularität zu steigern, weiter im Sattel sitzt, wenn auch nicht mehr ganz so fest, was an seinen sich widersprechenden Aussagen und Maßnahmen im Hinblick auf die Meuterei der Wagner-Gruppe überdeutlich wird. Dass man das eindeutige Staatsversagen angesichts des etwas operettenhaften Marschs auf Moskau nun in einen Sieg der russischen Sicherheitskräfte ummünzt, entspricht der Logik der russischen Informationspolitik, die permanent und systematisch auf Uneindeutigkeiten, Verleumdungen und Vertuschungen setzt, um damit Freund und Feind zu verunsichern.

Hingegen bleibt das Schicksal Prigoschins und seiner Söldner, die sich bis zum 1. Juli dem Oberbefehl der russischen Armee unterstellen sollten, was Prigoschin mit seinem Putsch zu verhindern suchte, ungewiss. Inwiefern und in welchem Maße sie das Angebot Putins annehmen werden, in den Reihen der russischen Armee zu kämpfen, lässt sich nur schwer abschätzen. Inzwischen wird von unabhängigen Medien berichtet, dass Angehörige der Wagner-Gruppe, die sich der russischen Armeeführung unterstellt haben, wieder bevorzugt in den ersten Kampflinien verheizt werden. Auch so wird man russische Patrioten los, an deren Loyalität erhebliche Zweifel bestehen. Dass Putin aber trotzdem auf das Wagner-Potenzial angewiesen ist, zeigen die Erfahrung der Kämpfe um Soledar und Bachmut, vor allem aber das beachtliche und für den Kreml sehr einträgliche Engagement der Prigoschin-Truppe in Afrika.

Auf jeden Fall ist die Armeeführung und mit ihr Putin einen ihrer hemmungslosesten Kritiker los, der sich bei seinen verbalen Angriffen auf die russische Armeeführung eines ausgesprochenen Verbrecherjargons bediente und auch danach handelte. Da er nicht den offiziellen staatlichen Strukturen angehörte, erfüllte er im Einvernehmen mit Putin lange Zeit eine wichtige Rolle, indem er die recht erfolglose russische Armeeführung vor sich hertrieb. Diese Rolle ist nun ausgespielt, denn Prigoschin hat sie zuletzt eigenwillig überinterpretiert und den Regisseur zu wenig einbezogen. Das Schweigen und Abtauchen seiner Hauptgegner Schojgu und Gerassimow spricht zwar Bände, besagt aber nicht, dass sie aus dem Spiel sind.

Nach wie vor setzt Russland auf einen langen Zermürbungskrieg und geht davon aus, dass den Unterstützern der Ukrainer und den Ukrainern selbst die Puste ausgeht. Dass man dabei bereit ist weiter zu eskalieren, zeigte die Sprengung des Kachowka-Staudamms sowie der kürzlich erfolgte gezielte Angriff auf eine Pizzeria in Kramatorsk, bei der unter anderen die Schriftstellerin und Menschenrechtsaktivistin Victoria Amelina den Tod fand.

Auch die Bedrohung durch eine Nuklearkatastrophe im Atomkraftwerk in Saporoschija sowie der ständige Beschuss ziviler Ziele in der Ukraine sind Teil dieses Kalküls. Und da die ukrainische Gegenoffensive vor allem aufgrund des Mangels an westlichen Kampfflugzeugen nur langsam vorankommt, und die russischen Streitkräfte viel Zeit hatten ihre Verteidigungslinien auszubauen, steht zu befürchten, dass dieser Krieg mittelfristig kein Ende findet. Darauf werden sich auch die NATO-Staaten einstellen müssen, die bei dem anstehenden Gipfel in Vilnius, der Ukraine – über die bisher geleistete Militärhilfe hinaus – weitreichende Sicherheitsgarantien geben und eine klare Perspektive für einen NATO-Beitritt eröffnen sollten.