Rechtsstaatlichkeit in der EU als höchstes Gut

Dr. Gerhard Schüsselbauer

Die vehementen Diskussionen um die Asylrechtsreform in der EU in den letzten Monaten und in diesen Tagen zeigen, dass eine funktionierende Rechtsgemeinschaft der Kern der EU als supranationalem Staatenverbund ist. Das EU-Recht steht dabei über dem nationalen Einzelrecht, nicht jedoch über dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Die Charta der Grundrechte der EU kodifiziert dabei als Pendant zum Grundgesetz die Grundrechte und Menschenrechte innerhalb der Europäischen Union. Dazu zählt selbstverständlich auch das Recht auf Asyl und Schutz.

Die Fokussierung auf das Rechtssystem und die Unumstößlichkeit der Rechtsstaatlichkeit (rule of law) muss verdeutlichen, dass die EU viel mehr ist als nur eine nationalstaatliche, politische Interessengemeinschaft oder der Binnenmarkt, der unseren Wohlstand sichern soll. Sie ist im Kern eine Rechtsgemeinschaft, basierend auf einem völkerrechtsverbindlichen Ordnungssystem zwischen Nationalstaaten. Damit erhebt die EU eine der größten Errungenschaften der Zivilisation zu ihrem Wesenskern sui generis. Ohne Rechtsstaat gibt es keine Demokratie, siehe Russland!


Die Warschauer Syrena (Meerjungfrau) als Symbol für die Verteidigung von Recht, Unabhängigkeit und Freiheit, eigenes Foto.

Die permanenten Auseinandersetzungen mit Polen und Ungarn umfassen daher wesentliche Aspekte des über Jahrhunderte gewachsenen Rechtsverständnisses in Europa, das in den letzten hundert Jahren einschneidende Erfahrungen mit totalitären Regimen machen musste. Im Mittelpunkt stehen die auf der Rechenschaftspflicht beruhenden, demokratischen und pluralistischen Gesetzgebungsverfahren, Rechtssicherheit, Verbot der willkürlichen Ausübung exekutiver Gewalt, wirksamer Rechts- und Grundrechtsschutz sowie gerichtliche Überprüfung von Maßnahmen der Exekutive durch unabhängige und unparteiische Gerichte. Gewaltenteilung und die Gleichheit vor dem Gesetz sind Grundbedingungen des Staatsrechtsverständnisses.

Die EU wird vielfach mit einem funktionierenden Binnenmarkt gleichgesetzt und ihre Substanz auf ökonomische Aspekte reduziert. Wie soll jedoch mit Mitgliedstaaten verfahren werden, die offenkundig gegen elementarste Prinzipien der Gewaltenteilung und der Umsetzung der Rechtsstaatlichkeit verstoßen? In einer Reihe der EU-Staaten finden wir gravierende Mängel, die vor allem darauf abzielen, die Balance zwischen Exekutive und Judikative zugunsten ersterer zu verschieben. Genau diese Kernaspekte der Rechtsstaatlichkeit muss der Europäische Gerichtshof EuGH nun mit finanziellen Sanktionen und dem Einfrieren von EU-Fördergeldern gegenüber Polen und Ungarn durchsetzen. Sonst drohen die Grundfeste der EU nachhaltig zu erodieren.

Die Entwicklungen in Polen und Ungarn zeigen: Will man ein Land vollständig mit pseudo-demokratischen Mitteln kontrollieren, dann muss die Regierung insbesondere die klassischen Medien kontrollieren und den Meinungspluralismus eindämmen sowie vor allem die Unabhängigkeit der rechtsstaatlichen Institutionen untergraben. Daher haben einige nationalkonservative und populistische Regierungen sehr gut gelernt, worauf es hierbei ankommt und wie schwach die Sanktionsmechanismen der EU sind und bislang kaum eine abschreckende Wirkung entfalten. Nicht nur Polen mit dem Gespann Kaczyński/Morawiecki und Ungarn mit Viktor Orbán als Ministerpräsidenten an der Spitze machen keinen Hehl daraus, den Weg in die „illiberale“ Demokratie zu forcieren. Auch in Italien gibt es äußerst bedenkliche Entwicklungen, insbesondere was die Abkehr von solidarischen Prinzipien und der klaren Betonung nationaler Interessen, insbesondere in der Migrationspolitik, anbetrifft.

Ein Konstruktionsproblem der EU besteht im Aufbau wirksamer Kontroll- und Sanktionsmechanismen. Das sind im Grunde genommen schon altbekannte Lehren aus der Schuldenkrise und dem Bailout hochverschuldeter Staaten durch den Europäischen Stabilitätsmechanismus. Die Theorie der (ökonomischen) Anreize (incentives) legt nahe, dass es keinen Anreiz gibt, sich der Mehrheit in einem supranationalen Staatenverbund zu beugen, wenn man keine wirklichen Strafen befürchten muss. Verschlimmert wird diese Tatsache noch durch Vetorechte der EU-Länder bei Entscheidungen von strategischer Bedeutung in der EU-Politik. Eine klare Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit vor Auszahlung von Finanzmitteln aus dem Corona-Wiederaufbaufonds NextGenerationEU (750 Mrd. €) sowie dem über sieben Jahre laufenden und ca. 1,7 Billionen Euro umfassenden EU-Haushaltsrahmen ist Grundvoraussetzung für die weitere Zusammenarbeit des Staatenverbundes der EU-Länder. Ein weiteres Problem stellt die Wirksamkeit des Vertragsverletzungsverfahrens nach Artikel 7 EUV dar. Dieses an sich starke Instrument kann nur dann seine abschreckende Wirkung entfalten, wenn tatsächlich effektive Maßnahmen zur Stärkung der Unabhängigkeit des Justizwesens und zum Medienpluralismus sowie zur Korruptionsbekämpfung durchgesetzt werden können. Ein weiterer schwerwiegender Aspekt liegt im Spannungsverhältnis zwischen supranationalem Interesse und nationalstaatlichen Entwicklungen. Sehr leicht neigen nationalstaatliche Regierungen dazu, Brüssel und die EU als „Moloch“ abzustempeln, um die Wählergunst in ihren Ländern zu gewinnen. Das einfache „Sündenbockschema“ funktioniert perfekt durch gezielte Desinformation und populistische Deutungshoheit der veröffentlichten Meinungen. Gerade die Asyl- und Migrationspolitik sind dafür Paradebeispiele. So lassen sich große Teile der Bevölkerung leicht durch das „Wir-gegen-Andere-Schema“ instrumentalisieren. Es ist daher die große Herausforderung für die Zivilgesellschaft in den jeweiligen Ländern, sich dem entgegenzustellen und sich entschieden der Erosion der Herrschaft des Rechts zu widersetzen. Die EU muss vor allem eine fest verankerte, glaubwürdige und unumstößliche Rechtsgemeinschaft darstellen.