Schatten der Vergangenheit: Das Massaker von Wolhynien 1943

Dr. Zbigniew Wilkiewicz

Dankenswerterweise ist in der FAZ vom 3. Juli 2023 ein lesenswerter Überblicksartikel des deutschen Osteuropahistorikers Kai Struve erschienen, in dem die wichtigsten historischen Fakten der Wolhynischen Tragödie wiedergegeben und die Kontroversen zwischen der polnischen und der ukrainischen Auslegung dieser Ereignisse sachlich referiert werden.

Er sei jedem, der sich näher für dieses Thema interessiert ans Herz gelegt. (Kai Struve: Wolhynien 1943. Während des Zweiten Weltkriegs überfielen Ukrainer polnische und Polen ukrainische Dörfer und ermordeten Zivilisten. Die Geschichte dieser Verbrechen steht bis heute zwischen beiden Ländern, FAZ, 3. Juli 2023, S.6)

Untenstehend gebe ich in Auszügen ein in der „Gazeta Wyborcza“ veröffentlichtes Interview mit dem ukrainischen Historiker Jaroslaw Hrytsak in deutscher Übersetzung wieder. Es entstand aus Anlass des vor 80 Jahren in Wolhynien von Ukrainern auf Geheiß der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA) an polnischen Zivilisten verübten Massakers, denen zehntausende polnische Männer, Frauen und Kinder zum Opfer fielen. Es kam auf polnischer Seite zu ähnlich grausamen Revancheakten an ukrainischen Zivilisten, bei denen ebenfalls abertausende Menschen umkamen.

Ein Thema, das zwischen der Ukraine und Polen seit Jahrzehnten schwelt und kontrovers diskutiert wird. Aufgrund des nahenden 80. Jahrestags der Wolhynischen Tragödie gibt es in Polen, aber auch in der Ukraine erneut eine zum Teil hitzig geführte Debatte, die von den „Instituten des nationalen Gedenkens“ in Warschau und in Kiew, Zeithistorikern und Politikern getragen wird und in der veröffentlichten Meinung beider Länder ihren Niederschlag findet. Der Stimme des namhaften ukrainischen Historikers Jaroslaw Hrytsak, der sich seit Jahrzehnten für eine Aussöhnung zwischen Polen und Ukrainern einsetzt, kommt dabei ein besonderes Gewicht zu.

Jarosław Hrytsak: In Sachen Wolhynien werden sich Polen und Ukrainer zu meinen Lebzeiten nicht einigen, Gazeta Wyborcza Das Massaker in Wolhynien, 07.07.2023

https://wyborcza.pl/alehistoria/7,121681,29942344,jaroslaw-hrycak-malo-prawdopodobne-by-polacy-i-ukraincy.html?utm_source=SARE&utm_medium=email&utm_campaign=best_articles&NLID=12c971b8d0b9a2a4b3c48763d66158378eb236e59788b22a66890ff4b5da81f0

(…)

Andrzej Brzeziecki: Denken die Ukrainer, die in Polen Arbeit oder Schutz vor dem Krieg suchen, an die schwierige Geschichte zwischen Polen und der Ukraine?

Jaroslaw Hrytsak: Vielleicht machen die Soziologen andere Beobachtungen, aber ich meine, dass in der Mehrzahl der Fälle die Menschen mit ihren alltäglichen Angelegenheiten beschäftigt sind und sich Gedanken über ihre Zukunft machen. Über die polnisch-ukrainische Geschichte wissen sie so viel, wie sie im Fernsehen oder im Internet erfahren, was ihnen Politiker erzählen oder manchmal auch nur die Eltern oder Großeltern.

Vielleicht konzentrieren wir uns vor dem erneut anstehenden Wolhynien-Jahrestag zu sehr auf die Probleme und zu wenig auf das friedvolle Zusammenleben beider Völker?

Ich weiß nicht, ob zu viel oder vielleicht zu wenig – ich gehöre allerdings zu jener Gruppe von Historikern, die meinen, dass man Geschichte besser machen sollte, anstatt sich permanent nach ihr umzuschauen, sie zu diskutieren oder über sie zu streiten. Ehrlich gesagt mag ich Geschichte überhaupt nicht, insbesondere nicht unsere gemeinsame Geschichte…

Sie – als Geschichtsprofessor?!

Ein Arzt muss die Krankheiten, die er heilt, auch nicht mögen, er muss aber viel über sie wissen, um den Patienten helfen zu können. Die Vergangenheit, besonders das ständige Erinnern an sie, ist eine Krankheit, von der wir uns heilen müssen. Die Vergangenheit kann sich für eine Gesellschaft als Gift erweisen, wofür das Putinsche Russland das beste Beispiel darstellt. (…)

Wie wichtig ist heute Polen für die Ukraine? In Warschau gab es immer die Befürchtungen, dass Kiew, sobald dies möglich wäre, nur mit Berlin, Paris oder Washington sprechen würde. Jetzt ist Präsident Wolodymir Seleneskyj für die demokratische Welt ein Held. Braucht er Polen?

Polen ist der zweitbedeutendste Staat, in dem Ukrainer Schutz gefunden haben und der durchgängig die Rolle eines Anwalts der Ukraine spielt. Das steht außer Frage und das kann man nicht ignorieren. Ich glaube nicht, dass Kiew das Problem hat, zwischen Berlin und Warschau wählen zu müssen. Im Interesse der Ukraine ist das Entstehen einer Achse – Warschau – Berlin – Brüssel – London – Washington. Sollte eines dieser Elemente ausfallen, wird die Ukraine große Probleme bekommen und vielleicht nicht überdauern können. Der Erschöpfungskrieg hält an. In diesem Sinne erinnert der russisch-ukrainische Krieg in hohem Maße an den Ersten Weltkrieg. In einem solchen Krieg wird es keine Entscheidungsschlachten und keine Parade ukrainischer Einheiten auf dem Roten Platz geben. Letztendlich ist dies ein Krieg der Ressourcen, und es wird derjenige verlieren, der seine materiellen und geistigen Reserven erschöpft. Die Ukrainer kämpfen tapfer und haben eine gute Moral, aber wenn die Ukraine Russland alleine gegenüberstünde, verlöre sie mit Sicherheit. Sie hat nicht die Größe und das Potential. Die Polen sollten begreifen, dass die Ukraine nicht siegen kann, wenn sie nur die Unterstützung Polens hat. Wichtig ist der Zugang zu den Ressourcen des Westens. Dann wird Russland keine Chance haben. (…)

Bleibt die Frage, wer nach Putin kommt?

Das stimmt. Das Problem mit Russland besteht darin, dass andauernd irgendein Lenin, Stalin oder Putin an die Macht kommt. Es gibt keine Garantie dafür, dass falls Putin verschwindet, nicht ein neuer „in“ im Kreml auftaucht. Umso mehr müssen wir – Ukrainer wie Polen – lernen, in relativer Eintracht miteinander zu leben.

Eben, die Ukrainer meinen, dass jetzt, wo sie gegen Russland kämpfen, man historische Themen besser nicht berühren sollte. Die Polen antworten, dass jetzt ein guter Moment sei, um das Problem Wolhynien ein für alle Mal zu lösen.

Ich habe an zahlreichen, verschiedenen Versuchen teilgenommen, eine polnisch-ukrainische Aussöhnung herbeizuführen und das Wolhynien-Problem zu lösen. Einige davon habe ich sogar selbst organisiert. Meine Erfahrung aus diesen Aktivitäten sagt mir, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass sich Polen und Ukrainer in Sachen Wolhynien noch zu meinen Lebzeiten einigen könnten. (…) Jetzt naht der 80. Jahrestag der Wolhynien-Tragödie und die Diskussion wird hitziger. Es gilt aber bitte zu beachten, dass wenn wir die Gegenwart mit den Jahren 1939-1947 vergleichen, man keinen Grund zum Pessimismus hat. Wir streiten uns verbal, aber beide Länder verbindet ein Abkommen und beide Völker leben einträchtig miteinander.

Was verstehen die Polen ihrer Meinung nach in Sachen UPA nicht?

Der Krieg gegen die Polen war nicht das Hauptziel der UPA. Ihr Ziel war der Kampf um einen ukrainischen Staat, der Hauptfeind war Russland, also damals die Sowjetunion. Die Polen, aber auch die Juden waren nur zweitrangige Feinde. Wenn ich das so formuliere, so ist mir klar, dass es weder den Polen noch den Juden deswegen besser erging. Man sollte die UPA allerdings nicht als etwas Außergewöhnliches erachten, besonders sollte man die Aktivitäten der UPA in Wolhynien nicht als einen besonders grausamen Völkermord einstufen. Denn das war leider ein Phänomen des damals herrschenden Zeitgeists.

Bekanntheit erlangte folgende Losung der ukrainischen Nationalisten: „Die Ukraine den Ukrainern, die Polen hinter den San, die Moskowiter ins Grab, die Deutschen nach Berlin und die Juden an den Haken!“

Einer der besten Historiker des Zweiten Weltkriegs, Prof. István Deák, ein Amerikaner jüdische-ungarischer Herkunft, der als Kind den Holocaust überlebt hatte, schrieb, dass er nicht wisse, wieviel Ukrainer diese Losung unterschrieben hätten, er aber nicht daran zweifle, dass die Philosophie dieser Losung ihrem Wesen nach vielen Millionen Europäern recht nahe war.

Es gibt die Geschichte der UPA, aber es gibt auch das Gedenken an den Holodomor, es gibt die Himmlische Hundertschaft und die entstehende Legende des Kriegs seit 2022. Vielleicht ist die UPA in der Geschichte der Ukraine nicht mehr ganz so wichtig?

Im Gegenteil: der Krieg hat dazu geführt, dass die UPA zu einem wichtigen Element des historischen Gedächtnisses geworden ist. Bis zum Überfall Putins auf mein Land hat die Gestalt Banderas die Ukrainer gespalten. Die einen hielten ihn für einen Helden, während andere meinten, dass er ein Bandit gewesen sei. Nach Ansicht der Soziologen hat Bandera bereits zwei Monate nach Kriegsausbruch und das erste Mal seit Wiedererlangung der Unabhängigkeit als Symbol des Kampfes gegen Russland das Volk geeint. Ich glaube nicht, dass die Ukrainer im Laufe dieser zwei Monate etwas über Bandera erfahren haben, was sie vorher nicht wussten. Es sind die Umstände, die Helden schaffen.

Sie haben vor zehn Jahren in der Batory Stiftung gesagt, dass „sich die Ukrainer sehr seltsam fühlen. Einerseits will die Welt nicht anerkennen, dass der Große Hunger ein Völkermord war. (…) Andererseits erwartet man von ihnen – und das wird genauso empfunden, dass sie Wolhynien als von ihnen verursachten Völkermord, anerkennen.“ Sie haben damals argumentiert, dass nur die europäische Perspektive den Ukrainern helfen könne, Wolhynien anders zu sehen. Heute unterstützen Polen, aber auch fast ganz Europa und die USA die Ukraine. Reicht das nicht aus?

Es steht weiterhin die Mitgliedschaft der Ukraine in der EU und in der NATO aus. Wenn die Sicherheitsprobleme gelöst sind, wird es uns wesentlich leichter fallen, über die Vergangenheit zu sprechen. (…)

Vor zwanzig Jahren gehörten Sie zu den Unterzeichnern eines offenen Briefs zum Thema Wolhynien. Damals vermied man die Worte „Wir entschuldigen uns“ ebenfalls.

Ich und einige Kollegen vertraten die Ansicht, dass man eingestehen müsse: Die UPA hat gegenüber der Zivilbevölkerung Verbrechen verübt und man muss sich dafür entschuldigen. Die Mehrheit meinte aber, dass dies ein zu radikaler, für die Ukrainer unverständlicher Schritt wäre, und es nur Wasser auf die Mühlen Moskaus sein würde. (…) Bei den damaligen Diskussionen gab es die Bereitschaft, die Verbrechen in Wolhynien zu verurteilen, nicht aber die gesamte UPA. Für die Polen war eine solche Differenzierung kaum nachvollziehbar.

Hat sich seitdem etwas verändert?

Es ist eine neue Generation von Menschen herangewachsen, die sich weder an unsere Initiative erinnern noch von ihr wissen. Außerdem war dies vor zwei Majdanen, den demokratischen Revolutionen der Jahre 2004 und 2013, vor allem aber vor dem Krieg. Damals, im Jahre 2003, wollten wir den Polen ein klares Signal geben. Polen war dabei, der EU beizutreten, nicht aber die Ukraine und wir befürchteten, dass beide Länder durch einen neuen Eisernen Vorhang getrennt werden könnten.

Das trat aber nicht ein.

Zum Glück geschah etwas ganz anderes. Die Ukraine erhielt die Perspektive einer EU-Mitgliedschaft. Aber das Wichtigste ist, dass damals die Mehrheit der Unterzeichner des offenen Briefs Leute aus der West- und Zentralukraine waren, denn im Osten und im Süden gab es eine Mehrheit gegen die europäischen Aspirationen. Adam Michnik hat einmal gesagt, dass über die europäische Perspektive der Ukraine weder Lemberg noch Kiew entscheiden werden, sondern Charkiw und Odessa. Jetzt – nach einem Jahr Krieg – wollen Odessa und Charkiw in die EU und sehr viele Geflüchtete aus diesen Städten sind schon da. Im Unterschied zu uns, den Bewohnern von Kiew und Lemberg, sind sie nicht durch das Trauma der polnisch-ukrainischen Beziehungen der Vergangenheit belastet. Theoretisch könnte uns das bei der Aussöhnung helfen. Ob es so kommt? Wir werden es erleben.

Sie haben häufig geäußert, dass die politischen Prozesse in der Ukraine denen in Polen ähneln, nur dass sie sich Jahrzehnte später abspielen. (…)

Die Ukraine möchte der EU und der NATO beitreten, aber vorher muss sie wichtige Reformen durchführen – genau so, wie das Polen getan hat. Häufig höre ich in Antwort auf meine Argumente, vor allem auch von Polen, dass ihr Land ein schlechtes Vorbild für die Ukrainer sei. „Schau nur – sagen sie mir – welche Probleme Polen jetzt hat“. Und ich antworte dann, dass wir, die Ukrainer, sehr gerne nur solche Probleme hätten! Leider haben wir ganz andere – wir kämpfen ums Überleben, während wir nur normal leben möchten, gerade so wie die Polen, mit all den Konflikten und Problemen, die ihr habt.