Bukarest – Vilinus – ein déjà vu

Dr. Zbigniew Wilkiewicz

Ist der nun am 12. Juli 2023 in Vilnius zu Ende gegangene NATO-Gipfel ein Erfolg oder gar ein historisches Ereignis? Was die unter großen Mühen herbeiverhandelte und im letzten Moment von Erdoğan in Aussicht gestellte Aufgabe des Widerstands gegenüber dem NATO-Beitritt Schwedens angeht, wird man das sicher sagen können. Auch, was die nunmehr miteinander vereinbarten strategischen NATO-Ziele im Hinblick auf die russische Aggression und die akute Bedrohung der Ostflanke der NATO betrifft, wird man von einem notwenigen Umdenken sprechen dürfen, das als Erfolg zu werten ist.

Was allerdings die zukünftige Einbindung der Ukraine in die NATO-Strukturen angeht, so kann man geteilter Ansicht sein. Die Hoffnungen der Ukraine auf eine verbindliche Beitrittsperspektive blieben unerfüllt. Weder die baltischen Staaten noch Polen, Tschechien, die Slowakei und Rumänien, aber auch nicht Frankreich, die im Vorfeld des Gipfels verbindlichere Zusagen für die Ukraine (Konkreter Fahrplan für die Aufnahme in die NATO) ins Spiel gebracht hatten, konnten sich durchsetzen. Die Definitionsmacht der USA war auch in dieser Frage bestimmend. Biden hatte schon im Vorgriff die entsprechenden roten Linien für einen präsumptiven NATO-Beitritt der Ukraine aufgezeigt. Dem schlossen sich Deutschland und auch Großbritannien, das zeitweilig eine entschlossenere Haltung an den Tag gelegt hatte, an. So wurde eine Einladung Kiews der NATO beizutreten ausgesprochen, allerdings ohne Datum und an Bedingungen geknüpft: „Wir werden in der Lage sein, die Ukraine zu einem Bündnisbeitritt einzuladen, wenn die Verbündeten sich einig und Voraussetzungen erfüllt sind.“ (Thomas Gutschker: Schweden darf rein, die Ukraine muss warten. In: FAZ, 17.02.23, S.3)

Die noch kurz vor dem Gipfel von Vilnius entschieden formulierte Kritik Selenskyjs an den allzu vagen Zusagen des Westens (es sei absurd, dass es keinen Zeitplan gäbe, Unschlüssigkeit sei Schwäche) wurde von ihm nicht mehr wiederholt, vielmehr bedankte sich der ukrainische Präsident höflich für die Hilfe und Solidarität der NATO-Staaten. Was blieb ihm auch anderes übrig? Er ist auf Gedeih und Verderb auf die weitere Unterstützung der NATO-Staaten angewiesen und er bleibt weiterhin Bittsteller.

Während der bekannte britische Historiker Timothy Garton Ash Präsident Biden noch einige Tage vor dem Gipfel aufforderte, sich etwas entschiedener und konkreter zu einem zukünftigen NATO-Beitritt der Ukraine zu äußern und seine allzu vorsichtige Haltung gegenüber Putin aufzugeben, erklärte Wolfgang Ischinger unmittelbar vor dem ersten Konferenztag, dass Biden den Rahmen vorgegeben habe und dass sich jedwede europäische Diskussion über eine konkretere NATO-Beitrittszusage an die Ukraine damit erübrige. Da wogen die Einwände der Mittelosteuropäer, die – wie die Ukrainer – auf einen möglichst baldigen NATO-Beitritt der Ukraine drängen, wenig. Auch von Sicherheitsgarantien seitens des Westens für die Ukraine war nicht mehr die Rede, lediglich von Zusagen, und dass man weiterhin fest an ihrer Seite stehe. Immerhin wurde der Ukraine als Trostpflaster die langwierige Heranführungsstrategie, der sog. „Aktionsplan“, erlassen und anstelle der NATO-Ukraine-Kommission die Schaffung einer NATO-Ukraine-Rats beschlossen.

Damit haben die NATO und allen voran die USA noch einmal deutlich gemacht, dass sie begreiflicherweise einen direkten kriegerischen Konflikt mit Russland verhindern wollen. Der Bündnisfall könnte allerdings nur dann eintreten, wenn die Ukraine bereits NATO-Mitglied wäre. Nebenbei bemerkt: hätte man sich 2008 auf dem NATO-Gipfel in Bukarest auf eine Aufnahme der NATO verständigt, damals sprachen sich Deutschland und Frankreich entschieden gegen einen NATO-Beitritt aus, wobei man den Ukrainern vage Zukunftshoffnungen machte, wäre es wohl kaum zur Krim-Annexion und dem seit 2014 währenden Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine gekommen. Wie wir inzwischen wissen, ist diese vor allem von Deutschland getragene Appeasement-Policy des Westens gegenüber Putin kläglich gescheitert.

Die daraus resultierende, im Februar 2022 von Russland erzwungene „Zeitenwende“ hat nach langem Hin und Her zu einer Konsolidierung des Westens und zu einer Abstimmung im Hinblick auf die militärische Unterstützung der sich seit über 500 Tagen tapfer verteidigenden Ukrainer geführt. Sie hat die russische Führung – trotz ihrer militärischen Niederlagen und weitreichender westlicher Sanktionen – aber nicht dazu gebracht, von ihrem verbrecherischen Angriffskrieg abzulassen. Zwar ist Putin samt seiner Militärführung erheblich geschwächt, Prigoschins Operetten-Putsch, der bis heute gewaltig nachhallt, ist da nur die Spitze vom Eisberg, aber noch sitzt der Kreml-Herr weiter im Sattel. Seine entschiedensten russischen Kritiker sind dabei keine den Frieden herbeisehnenden Tauben, sondern Falken, die sich für eine noch bedingungslosere und „effektivere“ russische Kriegsführung einsetzen.

Die erneute Drohung und Erpressung mit der Aufkündigung des ukrainischen Weizenexports über das Schwarze Meer belegt, dass Putin weiterhin bereit ist, sämtliche staatsterroristischen Register zu ziehen, um seinen Machtanspruch aufrechtzuerhalten. Die Patt-Situation an den Fronten, die von der russischen Propaganda bejubelt wird, da man ja dem gesamten „kollektiven Westen“ Paroli bietet, stärkt seine an sich schwache Position. Das weist alles darauf hin, dass dieser Krieg noch lange währt, und Russland alles tun wird, um einen wie auch immer gearteten Friedensschluss und einen friedlichen, vom Westen unterstützten Wiederaufbau der Ukraine zu verhindern. Die frozen conflicts in Georgien und Transnistrien lassen grüßen. Ohne Friedensschluss wird es aber keinen NATO-Beitritt der Ukraine geben können. Aber – ohne die Absicherung der Ukraine durch einen NATO-Beitritt bleibt das Land auch zukünftig relativ schutzlos dem russischen Aggressor ausgeliefert…

Die Tatsache, dass es der Westen in den letzten Monaten versäumt hat, die Ukraine schnell und entschieden genug mit entsprechenden Waffensystemen auszurüsten – die leidige F-16-Debatte ist dafür nur das prägnanteste Beispiel – lassen einen wie auch immer gearteten „Sieg“ der Ukraine in unabsehbare Ferne rücken. Wahrscheinlich ist vielmehr ein nicht enden wollender Krieg mit weiteren enormen materiellen Vernichtungen und unzähligen Menschenopfern. Auch der Umstand, dass man der Ukraine – wie von Selenskyj gefordert – keine konkreten Beitrittsplan offeriert hat, spricht dafür, dass man sich in der NATO auf einen lange währenden Abnutzungskrieg einstellt. Zwischenzeitlich erwartet man von Kiew, weitere Anstrengungen bei der Korruptionsbekämpfung, der Organisation seiner Sicherheitskräfte und der Interoperabilität seiner Streitkräfte.

Trotz vollkommen anderer politischer Rahmenbedingungen erleben wir somit eine Art déjà vu des NATO-Gipfels von Bukarest. Das bedeutet für die Ukraine einen heftigen Rückschlag in ihrem entschiedenen Streben nach Westen. Für die mittelosteuropäischen Staaten, die sich von Russland direkt bedroht fühlen, entsteht nach diesem Gipfel der Eindruck, erneut nicht gehört zu werden. Aus ihrer Sicht haben die Westmächte eine Chance vertan, ihre Ostflanke zu stärken: „Da wäre politische Kreativität gefragt gewesen, mehr Angebote zu politischer, militärischer und wirtschaftlicher Unterstützung, Einbindung in Nato-Strukturen – und natürliche ein klarer Fahrplan für die Mitgliedschaft nach dem Krieg. (…) Selenskyj hätte Vilnius als Präsident eines De-facto-Nato-Mitgliedslandes verlassen müssen, das sich auf den Beistand der westlichen Partner verlassen kann. Aber so bleibt das Land weiter ein Bittsteller, der um Waffen bettelt.“ (Jan Puhl: Der Osten wurde wieder übergangen. In: „Der Spiegel“, 15.07.2023, S.77)