Dr. Zbigniew Wilkiewicz
Radosław Sikorski hat es kürzlich auf den Punkt gebracht: Nicht der Westen sollte sich vor Putin fürchten, sondern Putin vor dem Westen! Damit hat der polnische Außenminister sehr lakonisch, aber recht anschaulich zum Ausdruck gebracht, worauf eine effektive Abschreckung Russlands seitens des westlichen Bündnisses basieren sollte.
Was erleben wir hingegen seit Beginn des von Russland vom Zaun gebrochenen Krieges gegen die Ukraine und den „kollektiven Westen“? Einerseits die nach langem Abwarten und Zögern allmählich immer lauter werdenden Bekundungen der EU- und NATO-Führung, dass man die Ukraine bis zu ihrer Nicht- Niederlage und ihrem Nicht- Sieg entschlossen unterstützen und verteidigen werde, andererseits die gut nachvollziehbare Versicherung an die eigenen westlichen Gesellschaften und an Russland, dass die NATO auf jeden Fall vermeiden werde, in einen direkten Konflikt mit Russland zu geraten. Dementsprechend sind ukrainische Angriffe auf russisches Territorium ein Tabu und die Lieferung westlicher Marschflugkörper mit größerer Reichweite wird an die Bedingung geknüpft, dass sie keinesfalls russisches Territorium erreichen dürfen.
Während Putin, Medwedjew und Konsorten seit fast zwei Jahren die gesamte Ukraine unverhohlen mit allen möglichen schweren Waffen beschießen und ganze Ortschaften in Schutt und Asche legen lassen, ist man sich im Westen darin einig, dass die Ukraine sich nur auf ihrem eigenen Territorium verteidigen dürfe, um den Aggressor nicht zu „provozieren“ und ihm einen Vorwand zu weiterer Eskalation zu liefern. Ausgeschlossen wurde von Beginn an auch der Einsatz von NATO-Truppen in der Ukraine. Zu groß war und ist im „kollektiven Westen“ die Angst vor einer weiteren Ausweitung des Kriegs.
Dabei spielen die seit Kriegsausbruch immer wieder von russischer Seite ausgestoßenen Drohungen mit dem Einsatz taktischer und strategischer Atomwaffen und das Aufzeigen „roter Linien“ in der psychologischen Kriegsführung des russischen Aggressors eine erhebliche Rolle. Damit hat Putin in der EU zweifelsohne einen Nerv getroffen und für Verängstigung gesorgt. Selbst bleibt der Kreml unberechenbar, der Westen hingegen – von Washington über Paris, London und Berlin – legt sich frühzeitig in offener Diskussion fest, was die Ukraine und man selbst militärisch darf oder nicht darf.
Gegenwärtig ist die offene Diskussion allerdings in offenen Streit umgeschlagen. Der französische Präsident Macron, der aufgrund seiner lange anhaltenden und praktizierten Gesprächsbereitschaft mit Putin vor noch nicht allzu langer Zeit des überflüssigen Macronierens (Geredes) bezichtigt wurde, gab angesichts der für die Ukraine schwierigen militärischen Situation zu bedenken, dass man zukünftig den Einsatz von NATO-Einheiten in der Ukraine nicht grundsätzlich ausschließen sollte. Seine westlichen Partner, allen voran der ansonsten weniger mitteilsame und diskussionsbereite Bundeskanzler Scholz widersprachen ihm prompt und entschieden.
Angesichts der weiter anhaltenden, Deutschland spaltenden Taurus-Debatte inklusive des fahrlässigen Umgangs mit äußerst sensiblen Daten und Gesprächsinhalten hoher deutscher Militärs, die von russischer Seite abgehört und entsprechend gefaket veröffentlicht wurden, hat Putin zweifelsohne einen Punktsieg errungen.
Und wollte Macron durch seinen in den Hauptstädten des Westens so vehement abgelehnten Vorschlag dazu beitragen, den Westen mit mehr Ambiguität auszustatten und für Putin etwas unberechenbarer zu machen, so sorgte Scholz mit seinem nun endlich ausgesprochenen, aber argumentativ wenig überzeugenden Machtwort, dem Nein zur Lieferung von Taurus an die Ukraine, vorerst für „Klarheit“. Denn damit hat er den Westen für Putin wieder lesbarer und berechenbarer gemacht, er hat sich dem Druck Putins gebeugt. (Anton Hofreiter, Norbert Röttgen: Der katastrophale Defätismus des Kanzlers. In: FAZ, 11. 03. 2024, S.8)
Dass man für die Initiative Macrons in Ostmitteleuropa, in Rumänien und in den baltischen Staaten weitaus mehr Verständnis aufgebracht hat, steht auf einem anderen Blatt. Offenbar weiß man in diesen lange von Russland und der Sowjetunion dominierten und bedrohten Regionen, wie effektive Abschreckung gegenüber einem kompromisslosen kriegslüsternen Feind aussehen sollte.