Europäischer Schulterschluss?

Dr. Zbigniew Wilkiewicz

Kurz vor den US-Präsidentschaftswahlen präsentiert sich Europa, genauer gesagt die EU, gespaltener als je zuvor. Die beiden Kernstaaten Deutschland und Frankreich haben sich innenpolitisch schachmattgesetzt und sind in erster Linie mit sich selbst beschäftigt, ohne eine gemeinsame Sprache zu finden.

Ganz Europa erlebt seit Jahren einen spürbaren Rechtsruck und in vielen EU-Staaten dominieren inzwischen konservative, zuweilen nationalistische und rechtsextreme Parteien, die dem Liberalismus mit seiner globalen Entgrenzung und Offenheit den Krieg angesagt haben. Die verstärkte Kontrolle und Überwachung der Staatsgrenzen stößt angesichts des ungeregelten Zuzugs von zahlreichen Armutsmigranten und Kriegsflüchtlingen nicht nur an den Außengrenzen der EU auf die Zustimmung vieler Europäer, sondern findet auch im Schengenraum immer mehr Befürworter.

Der angesichts der Bedrohung durch den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine sehr wünschenswerte Reset der deutsch-polnischen Beziehungen, den man sich vor einem Jahr nach der Niederlage der EU-feindlichen und extrem nationalistischen achtjährigen Herrschaft der PiS erhofft hatte, fand nicht statt. Im Gegenteil, das im Juli in Warschau vereinbarte deutsch-polnische Aktionsprogramm ist kaum vorangekommen, in Fragen des europäischen Asylabkommens, der umstrittenen Grenzkontrollen, der Energiepolitik und der Sicherung der östlichen Außengrenze der EU liegt man weit auseinander. Selbst hinsichtlich der historischen Hypotheken (Erinnerungsorte, Reparationszahlungen) herrscht zwischen beiden Ländern und Gesellschaften Dissens. Während die PiS an ihrer antideutschen Narration festhält und diese weiterhin gegen Donald Tusk ausspielt, scheint es in Deutschland, besonders bei der Regierungspartei SPD, kein Interesse zu geben, mit dem polnischen Nachbarn eine „neue Ostpolitik“ zu formulieren und umsetzen.

Das Misstrauen der Polen gegenüber dem deutschen Nachbarn wird zudem durch die Erfolge der Putin-freundlichen AfD und des BSW in Thüringen, Sachsen und Brandenburg befeuert, vor allem aber durch die „friedenspolitischen“ Postulate und Forderungen Sarah Wagenknechts, die bei den Deutschen durchaus populär sind. Auch ist die kürzliche Rehabilitierung des Putin-Freundes Gerhard Schröder durch den Generalsekretär der SPD Miersch in Polen mit Unverständnis und Ablehnung zur Kenntnis genommen worden.

Unterdessen rückt die russische Armee unter ungeheuren Menschenverlusten, die der traditionellen russischen Kriegsdoktrin entsprechend billigend in Kauf genommen werden, im Donbass vor. Selbst der faktische Kriegseintritt Nordkoreas ändert nichts an der Haltung der westlichen Unterstützer der Ukraine, weiterhin auf der einmal beschlossenen Reichweitenbeschränkung westlicher Marschflugkörper zu beharren.

So hat Russland an der Donbass-Front die Luftüberlegenheit und kann die ukrainischen Stellungen nach Belieben beschießen und zerstören. Die Hoffnung ist nun vor allem mit der Rasputiza verbunden, jenen berüchtigten Geländeverhältnissen eines regenreichen Herbstes, die ein Weiterrücken der russischen Offensive für einige Wochen stark behindern könnten.

Der verzweifelte „Siegesplan“ Selenskyjs blieb im Westen ungehört, denn bei dem wichtigsten Verbündeten der Ukraine tobt seit Monaten ein unerbittlicher Präsidentschaftswahlkampf, der am 5. November 2024 sein vorläufiges Ende finden wird. Das Ukrainethema spielt neben der illegalen Migration dabei eine wichtige Rolle, so dass es weder Biden noch Harris wagen, weitreichendere Hilfszusagen zu machen. Indessen behauptet Donald Trump, dass er den Krieg in der Ukraine binnen 24 Stunden beenden könne.

Die USA bleiben am Ende der Amtszeit Bidens europapolitisch gespalten, seit einem Jahr steht für sie neben der strategischen Auseinandersetzung mit China der Konflikt im Nahen Osten im Vordergrund ihrer außenpolitischen Bemühungen. Dabei wird deutlich, dass sich der israelische Verbündete quasi selbstständig gemacht hat, wobei der umstrittene Staatspräsident Netanjahu auf einen Sieg Donald Trumps setzt.

Die seit Jahren angekündigte und in Teilen vollzogene Abkehr der USA von Europa und der NATO wird immer wahrscheinlicher, dementsprechend beginnt man in den europäischen Hauptstädten immer häufiger „Friedensgespräche“ und diplomatische Initiativen ins Spiel zu bringen. Denn ohne den jahrzehntelang über Europa aufgespannten atomaren Schutzschirm der USA als wichtigstem und tonangebenden NATO-Verbündeten, sieht man sich immer weniger in der Lage die Ukraine, die verlustreich um ihre Existenz kämpft und damit Europa vor einem Vordringen des Russkij Mir bewahrt, entschiedener zu unterstützen.

Extreme Ungewissheit und Erschöpfung machen sich nicht nur in der überfallenen und in großen Teilen zerstörten Ukraine breit, sondern in ganz Europa, das angesichts dieser fatalen Lage aber weiter tief gespalten bleibt.

Da hat der gewiefte Taktiker Putin, der mit seinen Diensten, Trollen, gedungenen Mördern sowie den zahlreichen rechts- und linkspopulistischen Unterstützern in Ungarn, Österreich, Polen, Deutschland und Italien viel zu dieser Spaltung der EU beigetragen hat, momentan gute Karten. Ob ihm dieses Momentum erhalten bleibt, hängt nicht nur in hohem Maße vom Ergebnis der morgigen Präsidentschaftswahlen in den USA ab, sondern auch davon, ob die maßgebenden Staaten der EU – allen voran Deutschland und Frankreich – in der Lage sein werden, ihre Lethargie abzuschütteln und gemeinsam so zu handeln, dass es nicht zu einem Siegfrieden Putins in der Ukraine und damit zu einem Triumph aggressiver autokratischer Diktaturen über das trotz allem noch immer mehrheitlich demokratische Europa kommt.