Dr. Zbigniew Wilkiewicz
Wenn der polnische Ministerpräsident Donald Tusk aus Anlass der Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft durch Polen am 22.01.2025 in seiner Ansprache vor dem Europäischem Parlament in Anspielung auf die erste Zeile der polnischen Nationalhymne formulierte, dass „Europa nicht verloren sei, so lange wir leben“ und etwas später hervorhob, dass „Europa groß war, groß ist und groß sein wird“, dann war das auch eine Reaktion auf das MAGA-Projekt Donald Trumps, das sich nach dem am 20. Januar erfolgten Amtsantritt des neuen alten Präsidenten der USA nun drastisch zu realisieren beginnt und die Weltöffentlichkeit fast tagtäglich mit schockierenden Neuigkeiten überzieht.
Ganz abgesehen von der wenig sachlich-fachlich überzeugenden Führungsmannschaft, die von Trump aufgestellt wurde, der Tatsache, dass den Amerikanern nunmehr eine von ihnen selbst gewählte milliardenschwere Riege von Oligarchen ins Haus steht, bedeutet das für den Rest der Welt, dass sich die USA im Eilschritt aus zahlreichen Programmen, die der Rettung der Welt vor der Klimakatastrophe, vor globalen Bedrohungen wie Epidemien und Hunger bewahren sollte, zurückziehen werden. Die jüngste Ankündigung des US-amerikanischen Außenministers Marco Rubio, sämtliche amerikanischen Hilfsprogramme für drei Monate auszusetzen und auf ihre Übereinstimmung mit den nunmehr gültigen Vorstellungen amerikanischer Außenpolitik zu prüfen, bezieht nicht nur Entwicklungs- und Aufbauhilfen ein, sondern eventuell auch militärische Unterstützung. Steht diese aber für Israel und Ägypten weiterhin außer Frage, so muss man davon ausgehen, dass dies im Falle der Ukraine nicht unbedingt der Fall ist. Im Klartext: Trump, der Selenskyj jüngst eine Mitschuld am russischen Angriffskrieg angedichtet hat, droht nun, ihr sämtliche humanitäre und eventuelle auch militärische Unterstützung zu entziehen.
Während die russische Diplomatie auf das Gesprächsangebot Trumps zu Friedensverhandlungen und dessen Drohung andernfalls weitere Sanktionen gegen Russland durchzusetzen relativ gelassen reagiert hat, muss die Ukraine nun fürchten, die Unterstützung ihres zuverlässigsten militärischen Verbündeten endgültig zu verlieren. Die von Trump seit langem angekündigte und nunmehr eingeläutete Zeitenwende nimmt ihren Lauf. Die Ukraine, die militärisch unter enormen Druck steht und deren zivile Infrastruktur weiterhin systematisch zerstört wird, wehrt sich zwar noch immer entschlossen und vernichtet in hohem Maße auch russische Militärinfrastruktur, wird sich aber angesichts mangelhafter militärischer Unterstützung aus dem Westen (USA und Europa), den ständigen russischen Angriffen kaum erwehren können.
Was dies angesichts der erratischen Haltung Trumps uns seines Vorhabens einen Deal mit Russland machen zu wollen für Europa bedeuten könnte, liegt klar auf der Hand. Nach einem von den USA und Russland vereinbarten Waffenstillstandsvertrag, an dem weder die Ukraine noch die EU maßgeblich beteiligt sein werden, wird sich in erster Linie Europa militärisch sowohl um die Sicherung der Waffenstillstandslinie zwischen der Ukraine und Russland als auch um die Sicherung der östlichen NATO-Grenze kümmern müssen. Die Vorstellung, dass die Waffenstillstandslinie zwischen der Ukraine und Russland durch Blauhelmmissionen geschützt werden sollte oder könnte (Wolfgang Ischinger), nimmt sich aufgrund entsprechender Erfahrungen mit ähnlichen Missionen im Donbass naiv aus, der Glaube, dass ein wie auch immer „erfolgreiches“ Russland nach der Einfrierung des Kriegs saturiert sein wird, ebenso. Eine Sicherung dieser wo auch immer verlaufenden Waffenstillstandslinie ohne die USA und ohne die Anwesenheit von NATO-Truppen aus möglichst vielen europäischen Staaten (Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Polen u.a.) wäre wenig erfolgversprechend. Während diese Frage in Großbritannien, Frankreich und auch Polen recht offenherzig diskutiert wird, und es trotz einiger Skepsis auch Stimmen gibt, die die Stationierung eigener Truppen an einer präsumtiven Waffenstillstandslinie befürworten, ist man diesbezüglich in der Bundesrepublik – wie nicht anders zu erwarten – äußerst zurückhaltend. Aber nicht nur in dem von einem heftigen Richtungswahlkampf gebeutelten Deutschland, sondern in der gesamten EU wartet man offenbar ab, wie sich die USA unter der Führung des selbsternannten Peacemakers Trump in Sachen Ukraine verhalten wird.
Seinen erpresserischen, imperialistischen Drohungen gegenüber Nato-Verbündeten und Wirtschaftspartnern wie Kanada, Dänemark, Mexiko und Panama widerspricht man in der EU ausgesprochen zurückhaltend, da man es sich offenkundig mit der übermächtigen Schutzmacht USA nicht verderben will. Bisher gebärdet sich Trump „nur“ verbal ganz ähnlich wie sein von ihm selbst bewunderter Widersacher Putin, der das Recht der Großmacht auf gewaltsame Ausdehnung ihrer Interessensphäre postuliert und rücksichtslos ausübt ohne sich um – bislang zumindest in der westlichen Welt geltende – internationale Vertragswerke zu scheren.
Auch die skandalösen Verbalinjurien und Einmischungen Elon Musks in den deutschen Wahlkampf, zuletzt seine auf dem AfD-Parteitag geäußerten Einlassungen zur bundesdeutschen Gedenkkultur, verdeutlichen, dass es der Schutzmacht USA durchaus nicht mehr um Partnerschaft, sondern bestenfalls um Gefolgschaft geht. Offenbar glaubt Musk nicht mehr auf das demokratische Europa und eine liberale EU angewiesen zu sein. Vielmehr propagiert er ganz offen das Zusammengehen mit extrem rechten, illiberalen und rassistischen Parteien und Bewegungen, die ihrerseits seit langem bemüht sind, die EU zu spalten oder ganz zu zerstören.
Russland wird weiterhin danach streben, seine geostrategischen Ziele durchzusetzen: die mit allen Mitteln betriebene Schwächung des demokratischen Westens durch die Zerschlagung der EU sowie die maximale Schwächung der NATO. Es sieht bisher nicht danach aus als würde die neue amerikanische Administration Putin dabei nachhaltig stören wollen. Denn weiterhin herrscht große Unklarheit, wie Trump es zukünftig mit der NATO halten wird. Sicher ist nur, dass die USA ihr sicherheitspolitisches Engagement in Europa erheblich zurückfahren werden. Dies ist allerdings ein Trend, der sich spätestens seit dem Regierungsantritt Obamas deutlich abgezeichnet hat.
Das unter dem Eindruck des russischen Überfalls auf die Ukraine wieder erstarkte transatlantische Bündnis zwischen den USA und Europa sowie die nachhaltige Stärkung der NATO durch die Beitritte Finnlands und Schwedens während der Präsidentschaft Joe Bidens sind inzwischen wieder Geschichte.
Die von Heinrich August Winkler im Jahre 2017 aufgeworfene Frage, ob der Westen aufgrund der damaligen Krise der Demokratie in Europa und Amerika zu zerbrechen droht, stellt sich heute wieder, allerdings mit noch größerer Dringlichkeit. Donald Trump ist drauf und dran mit seinem einflussreichen rechtsextremen Adlatus Elon Musk das liberale und demokratische Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell der USA zu zerlegen, seine Drohungen, die ein militärisches Vorgehen gegen verbündete Staaten nicht ausschließen, gemahnen an die Sprache Xis und Putins.
Die EU sollte sich nicht der Illusion hingeben, dass es angesichts der Machtfülle Trumps nur bei lautstarken Worten und leeren Drohungen bleibt, sie wird dieser zusätzlichen transatlantischen Herausforderung die Stirn bieten müssen, sowohl in wirtschaftlicher als auch sicherheitspolitischer Hinsicht. Dabei haben zahlreiche EU-Staaten inzwischen einen spürbaren autoritären Rechtsschwenk vollzogen und haben sich längst von vertraglich vereinbarten Zielvorgaben und Wertevorstellungen verabschiedet.
In anderen noch demokratisch geführten EU-Staaten wächst angesichts deutlicher wirtschaftlicher Schwäche und der ungelösten Migrationsproblematik der Einfluss extremistischer Parteien, nicht zuletzt in Deutschland, wo sich die AfD großen Zuspruchs erfreut. Da ist es geradezu fahrlässig, dass der designierte Kanzlerkandidat der CDU/CSU Friedrich Merz durch einen umstrittenen Antrag zur Lösung der deutschen Migrationskrise im deutschen Bundestag der AfD durch ein entsprechendes Abstimmungsverhalten zum Triumph verhilft und einen Tabubruch begeht. Und es ist Wasser auf die Mühlen von Elon Musk und Wladimir Putin, dass ausgerechnet die von ihnen unterstützte rechtsextreme AfD, die der Ukraine das Selbstbestimmungsrecht abspricht, Putin unterstützt, den „Systemparteien“ und der liberalen EU den Krieg erklärt hat, sich als Mehrheitsbeschaffer für die Union hervortun kann…
Angesichts dessen, was in den nächsten Wochen und Monaten im Zusammenhang mit einem wie auch immer gearteten Ausgang des Kriegs in der Ukraine auf Europa und Deutschland zukommt, sind das sehr beunruhigende Aussichten. Denn es bedarf einer enormen materiellen und moralischen Anstrengung und unentwegter politischer Überzeugungskraft in Europa, um den zugesagten Wiederaufbau der zerstörten Ukraine zu realisieren, ihr mittelfristig einen Weg in die EU zu eröffnen und sie durch glaubhafte gemeinsame Abschreckung vor der Vernichtung durch Russland zu bewahren.
Sollte dies nicht gelingen, droht Europa eine weitere unabsehbare Flüchtlingswelle aus der Ukraine und aufgrund des anhaltenden russischen Cyberkriegs nachhaltige Spaltung und Schwächung. Insofern ist dem polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk bei seinem oben erwähnten Auftritt vor dem Europäischen Parlament beizupflichten, wenn er in Abwandlung des berühmten Bonmots von Bill Clinton folgenden Appell an die Europäer richtete: „Frage nicht danach, was Amerika für Europa und unsere Sicherheit tun kann, sondern frage danach, was wir selbst dafür tun können.“
Lektüreempfehlung: Dirk Kurbjuweit: Demokratie in der Defensive. In: Der Spiegel, 25.01.2025, S.12-15; Weltlage: Der Historiker Timothy Garten Ash im SPIEGEL-Gespräch über die Gegenwart als Wendepunkt der Geschichte. In: Der Spiegel, 29.01.2025, S. 29-33.