von Mariella Scheer
Vlotho ist unbestritten das Highlight Ostwestfalens. Einer internationalen Gruppe mit über 30 Teilnehmer*innen ist jedoch natürlich auch ein Blick über die Grenzen der Kleinstadt hinaus nicht zu verwehren. Mit der Europäischen Jugendwoche des Kreises Herford, bei der wir neben Jugendlichen aus dem Kreis auch Gäste aus dem französichen Voiron, dem italienischen Bassano del Grappa und dem polnischen Gorzów Wielkopolski zu Gast haben, sind wir deswegen gestern zur Wewelsburg gefahren, um uns die dortige Gedenkstätte anzuschauen.
Die Wewelsburg ist bereits 408 Jahre alt, aber die frühneuzeitliche Geschichte hat den Ort nicht bekannt gemacht. Vielmehr wurde die Burg ab 1934 von der SS genutzt, seit 1939 existierte ein Arbeitslager, das ab 1941 als Konzentrationslager Niederhagen geführt wurde. Die Geschichte des Ortes wird seit 2010 in der Dauerausstellung Ideologie und Terror der SS von der Gedenk- und Erinnerungsstätte Wewelsburg präsentiert.
Die anderthalbstündige Busfahrt von Vlotho vergeht im strömenden Regen. Kurz vor der Wewelsburg biegt der Bus in eine Straße mit dem Namen „Judenweg“ ein – Zeichen ehemaliger Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung. Die Burg selbst ist auf den ersten Blick schön und beeindruckend. Man kann sich vorstellen, dass sie sich in der Vorstellung der SS gut als architektonischer Ausdruck von Überlegenheit geeignet hat.
Vor Ort teilen wir uns in zwei Gruppen, von denen eine eine englischsprachige, die andere eine deutschsprachige Führung erhält. Die deutsche Gruppe übernimmt der Historiker Norbert Ellermann. Auch er spricht von Anfang an viel von der Symbolik und der Selbstdarstellung der SS, die sich in den nationalsozialistischen Plänen für die Wewelsburg niederschlägt. Er warnt vor der Verführungskraft der Ideologie und zeigt auf, wie die SS durch eine besondere Ästhetik und Symbolik zu manipulieren suchte. In der Geschichte der Burg zeigt sich das nicht zuletzt an den Plänen, das Ensemble zur SS-Burg umzubauen, und zwar in einem gigantischen Erweiterungsprojekt. Auf den Modellen hierzu sieht die Burg in der Mitte winzig aus, bildet aber immer noch den Mittelpunkt einer auf Prunk und Größe ausgerichteten Anlage.
Die Ausstellung ist umfangreich und die Exponate vielfältig. Bücher zur so genannten „weltanschaulichen Gegnerforschung“, etwa über die Freimaurer oder die Zeugen Jehovas, von denen viele später im KZ Niederhagen waren, sind neben SS-Uniformen und Orden ausgestellt. Anhand von Biographien einzelner SS-Männer, die auf der Wewelsburg tätig waren, wird die Rolle der Anlage deutlich, aber auch das Werteuniversum derer, die sich in der nationalsozialistischen Bewegung wiederfanden. In seinen Erläuterungen nimmt Herr Ellermann immer wieder auch Bezug auf aktuelle politische Ereignisse und stellt die demokratische Verantwortung jedes einzelnen heraus, gruppenbezogene Ausgrenzung, Diskriminierung und Erniedrigung nicht zuzulassen. „Ich höre mir sowas ja sonst nicht an, aber er hat mich dazu gebracht, zuzuhören,“ sagt später einer der Teilnehmer.
Das liegt sicher nicht nur am lebendigen Wesen unseres Museumsführers, sondern auch an dem außergewöhnlichen Gelände. Im Burgturm finden wir uns in einem runden Saal, der mit Säulen gesäumt ist und den Eindruck einer Kapelle macht, aufgemütlichen Loungesitzen und Sitzsäcken wieder. Diese Sitzgelegenheiten stehen auf einem marmornen Boden, in den ein Sonnenrad eingelassen ist – eine Variation des Hakenkreuzes. Eindrucksvoll berichtet Herr Ellermann, dass mitunter auch Besucher auf die Wewelsburg kommen, die diesen ehemaligen „Obergruppenführersaal“ als Wallfahrtsort begreifen. Um dem keinen Raum zu geben, versucht die Gedenkstätte, die auratische Kraft des Saals zu brechen – mit den Sitzen und greller Beleuchtung.
Einen ähnlichen Raum besichtigen wir unten im Burgturm, in der Krypta. Der Raum besticht durch eine unglaubliche Akustik, die selbst das leiseste Flüstern ungemein verstärkt – vor allem wenn man sich in die mittig eingelassene Bodenvertiefung stellt. Bald hallt die Gruft wider vom Gelächter und dem vielsprachigen Stimmengewirr der Gruppe. Die okkulte Andacht, die Überhöhung einer auf Ungleichheit basierenden Ideologie, der Größenwahn des Nationalismus – alles verschwindet aus dem Raum bei diesem Klang der internationalen Verständigung. Es ist ein schöner Ausdruck für den Aufruf unseres kundigen Museumsführers, Europa als Konzept der Völkerverständigung und des Friedens zu begreifen.
Mariella Scheer ist wissenschaftlich-pädagogische Mitarbeiterin im GESW.