von Mariella Scheer
Vergangenes Wochenende hatten wir eine Gruppe von Schülerinnen und Schülern aus Wuppertal und Złotów zu Gast. Während unsere deutsch-polnischen Begegnungsseminare sich in der Regel vor allem mit der gemeinsamen Geschichte beider Länder, mit der Reflexion kultureller Prägung und mit dem deutsch-polnischen Dialog beschäftigen, hatte die betreuende Lehrerin in diesem Fall um ein Seminar mit Europa-Schwerpunkt gebeten. Für uns war das eine willkommene Möglichkeit, nicht nur unsere Methoden zu Europa in einen neuen Kontext zu setzen, sondern auch ganz neue Dinge auszuprobieren. So haben wir am zweiten Seminartag mit der Gruppe die OER-Simulation „Die Vereinigten Staaten von Europa“ gespielt.
Die Simulation steht offen zugänglich unter diesem Link auf #pb21 im Netz. Entwickelt wurde sie von Karsten Lucke und Anselm Sellen (Konzept / Inhalt / Text) und Lukas Ullrich (Design) in Kooperation mit pb21.de im Europahaus Marienberg, einem unserer Partner in der Arbeitsgemeinschaft der Ost-West-Institute. Die Teilnehmenden simulieren hier einen Europäischen Konvent, wie er im Vertrag von Lissabon vorgesehen ist, wenn es Änderungen der Verträge geben soll. Mitglieder des Konvents sind Vertreter*innen der Mitgliedsstaaten sowie Europäisches Parlament und Europäische Kommission. Geleitet wird er von einem Präsidium.
Es werden in der Simulation sechs Forderungen für eine Vertiefung des europäischen Einigungsprozesses diskutiert. Da es sich hierbei um grundsätzliche Vorhaben handelt, die von den Teilnehmenden gut nachvollziehbar sind und Bezüge zur eigenen Lebenswirklichkeit aufweisen, ist die Simulation greifbar und nicht zu abstrakt. Sie ist auch relativ leicht an aktuelle politische Diskussionen anpassbar. So besteht eine der sechs Forderungen in einer Einigung über zukünftige Grenzen der Europäischen Union. Obgleich Erweiterungen der EU in den nächsten Jahren wohl kaum zur Debatte stehen dürften, kann man an dieser Stelle die grundsätzliche Bereitschaft diskutieren, bestimmten Ländern und / oder Regionen Zugang zur Union zu gewähren. Eine weitere Forderung in dem Material lautet auf ein EU-weites W-LAN-Netzwerk. Mit dem WiFi4EU-Plan hat die Realität hier inzwischen den Stand der Simulation überholt. Zukünftig wäre stattdessen die Diskussion europaweiter Regelungen zu Cybermobbing oder Hatespeech im Netz denkbar. Wir haben die Simulation aber mit den vorhandenen ausformulierten Forderungen gespielt.
Anpassungen haben wir hingegen in den Rollenprofilen der Mitgliedsstaaten vorgenommen. Unsere Gäste kamen aus Polen, so dass es uns besonders wichtig war, hier ein glaubhaftes Rollenprofil vorzulegen, das der aktuellen Position der polnischen Politik entspricht. Als die Simulation entstand, regierte in Polen noch die liberale Bürgerplattform unter Donald Tusk und nicht die nationalkonservative Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS). So wurde das Rollenprofil nach unserer Überarbeitung deutlich europaskeptischer. Auch am Rollenprofil des Vereinigten Königreichs haben wir Änderungen vorgenommen; es galt den Brexit mit einzubeziehen. Mittelfristig wird das UK in der Simulation wohl durch ein anderes Mitgliedsland ersetzt werden müssen. Wünschenswert wäre eine stärkere Einbeziehung Ostmitteleuropas, denn außer Polen ist kein Land vorgesehen, dass 2004 oder später der EU beitrat.
Da wir eine internationale Gruppe hatten, haben wir die Simulation auf englisch gespielt. Bei einer Gruppe von hauptsächlich 16- und 17jährigen Teilnehmenden waren die Sprachkenntnisse mehr als ausreichend. Wir haben allerdings bei der Gruppeneinteilung darauf geachtet, dass in jedem Team mindestens eine Person sitzt, die gut Englisch spricht und evtl. sprachlich schwächere Mitstreiter*innen auffangen kann. Alle Gruppen waren außerdem binational besetzt.
Die morgendliche Vorbereitung verlief recht lebendig. Nach der Einführung im Plenum waren die Teilnehmenden im Großen und Ganzen gleich eifrig bei der Sache. Im Gespräch mit den Kleingruppen erschien es uns allerdings sinnvoll, bei den Gruppen noch ein wenig das Bewusstsein für politische Entscheidungsprozesse zu schärfen. Besonders versuchten wir, dafür zu sorgen, dass die Gruppen nicht die gesamte zweistündige Vorbereitungsphase auf die Übersetzung der Profile in ihre Muttersprache verwenden. Es kam dann aber durchaus auch zu Vorverhandlungen der einzelnen Länder in der zweiten Hälfte des Vormittags. Wir hatten neben der Linkliste mit Artikeln im Netz, die wir verschlüsselt auf unseren Blog gestellt und mit QR-Code und Link den Profilmappen beigelegt hatten, auch ein kleines Pressezentrum mit ausgedruckten Hintergrundmaterialien bereitgestellt, das allerdings so gut wie nicht genutzt wurde.
Nach der Mittagspause begann die Verhandlung im Plenum. Nachdem die ersten Forderungen sehr ausführlich diskutiert wurden, bemerkte das Präsidium nach dem ersten Drittel den zeitlichen Verzug und trieb zur Eile an. Gegen Ende ließ die Konzentration der Teilnehmenden deutlich nach. Auch in der Auswertung zeigten sich einige später gelangweilt und frustriert vom langwierigen Prozedere. Wir konnten diese Gefühle zwar auffangen, raten aber zu einer längeren und wirklich erholsamen Pause nach der Verhandlungsphase und zu einer ausführlichen Auswertung mit Raum für die emotionalen Reaktionen der Teilnehmenden.
Unser Konvent einigte sich in vier von sechs Fällen einstimmig, wenn die Forderungen auch nicht alle vollständig in das Abschlussdokument übernommen wurden, sondern teils kleinere Einschränkungen erfuhren. In zwei Fällen kam es zu keiner Einigung. Angesichts der schwierigen Konsensfindung in einem Abstimmungsverfahren, in dem nur Einstimmigkeit zu einem Ergebnis führt, waren die Teilnehmenden zufrieden mit dem Ergebnis. Viele von ihnen zeigten sich beeindruckt von der Komplexität der Abläufe und waren mit Begeisterung und Spaß bei der Sache. Auffällig war, dass die Rolle des Konvents in der institutionellen Landschaft der EU bis zum Schluss nicht ganz klar war und es Verwechslungen mit dem Europäischen Parlament gab. Hier werden wir beim nächsten Mal versuchen, in der Einführung noch deutlicher zu erklären, was der Konvent eigentlich ist und wie er sich zu Parlament, Kommission und Rat verhält.
Wir werden die Simulation mit Sicherheit in anderen internationalen Seminaren und auch in anderen Seminarformaten wieder benutzen und freuen uns sehr über die Bereitstellung als OER – wofür wir hoffen, uns bei Gelegenheit mit eigenen Materialien revanchieren zu können. Vielleicht regen unsere Beobachtungen auch andere Häuser dazu an und helfen bei der Umsetzung der „Vereinigten Staaten von Europa“. Wir wünschen dabei viel Spaß!
Mariella Scheer ist wissenschaftlich-pädagogische Mitarbeiterin im GESW.