von Mariella Gronenthal
Der Balkan wird über 100 Jahre nach dem Attentat von Sarajevo wieder von den Medien als Pulverfass beschrieben. Der Bosnienkrieg zwischen 1992 und 1995 und der Kosovokrieg von 1998/99 haben die Region nachhaltig erschüttert, und bis heute sind die Spuren deutlich sicht- und fühlbar. Als explosiv haben wir die Stimmung in Bosnien und Herzegowina auf unserer Reise mit dem Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten nicht empfunden. Dennoch fügen sich nach neun Tagen die intensiven Eindrücke und die Erinnerungen an Gespräche zu einem Bild der Zerissenheit.
Wir besuchen im bosnischen Nordwesten, unweit der kroatischen Grenze, die Ortschaft Grahovo. Dort wollen wir das Geburtshaus von Gavrilo Princip besichtigen, der 1914 das Attentat auf Franz Ferdinand verübte und damit zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs beigetragen hat. In der trostlosen und ärmlichen Gegend sticht das Holzhaus deutlich heraus. Es ist mit Abstand das am besten erhaltene Gebäude in der Straße, obwohl es nicht bewohnt ist.
Wir erhalten eine Führung durch das Haus von einem ortskundigen Herrn. Für ihn ist Princip ein Nationalheld des serbischen Volkes. „Ich habe 14 Bücher über ihn gelesen,“ betont er immer wieder. Einmal habe ihn ein Journalist damit konfrontiert, dass Princip eine Frau getötet habe – gemeint ist Franz Ferdinands Frau Sophie. Ja, das wisse er, und er wisse auch, dass es Princip Leid getan habe, er habe den Adjutanten erschießen wollen und in der Aufregung daneben gezielt. Deshalb sei er auch trotzdem ein Held, obwohl er eine Frau erschossen habe. Einer unserer Gruppenleiter fragt, ob es ihm bewusst sei, dass Franz Ferdinand durchaus proslawische Ansichten vertreten habe. „Das steht in keinem meiner 14 Bücher!“
Das Gästebuch in dem kleinen Museum füllen Einträge, die Gavrilo Princip als Helden feiern. „Dieses Haus ist viel zu wenig für dich!“ – „Wir danken dir für alles!“ – „Held der serbischen Nation!“ Eine unserer Teilnehmerinnen schreibt auf die nächste leere Seite: „Smrt Fašizmu“ – Tod dem Faschismus. Die Parole stammt aus der jugoslawischen Partisanenbewegung, die im Zweiten Weltkrieg gegen nationalistische und faschistische Mächte, darunter auch serbische Tschetniks, kämpfte und bereits 1943 das Fundament zur Gründung der Volksrepublik Jugoslawien legte.
Was hat serbischer Nationalismus im Grenzgebiet Bosnien und Herzegowinas und Kroatiens zu suchen? Das Gebiet war vor dem Bosnienkrieg mehrheitlich serbisch besiedelt, die Serben wurden jedoch gen Kriegsende von den Kroaten vertrieben. Heute liegt Grahovo im Kanton 10 in der Föderation Bosnien und Herzegowina (blau), deren Bevökerung mehrheitlich bosnisch-muslimisch und kroatisch-katholisch ist, während im anderen Landesteil, der Republika Srpska (rot), hauptsächlich ethnische Serben orthodoxen Glaubens leben. Kanton 10 ist eine der ärmsten Regionen des Landes, was sich im heute wieder mehrheitlich serbisch bevölkerten Grahovo deutlich zeigt.
Nach der Besichtigung des Geburtshauses von Gavrilo Princip fahren wir ins Ortszentrum. Ruinen reihen sich aneinander. Auf dem zentralen Platz steht ein Denkmal, Kränze liegen darunter. Es ist den kroatischen Befreiern des Ortes gewidmet. Der Kontrast ist absurd: Das gepflegte Denkmal für die Kroaten und die kaputten Häuser der Serben in unmittelbarer Nachbarschaft demonstrieren die ganze Tragik des Konflikts. Sie zeigen auch, dass man in Bosnien nicht eine Konfliktpartei allein verantwortlich machen kann: Alle drei ethnisch-religiösen Gruppen sind Opfer und Täter zugleich.
Eine Teilnehmerin bestellt in dem schlichten Cafe am Ort eine „bosanska kahfa“, einen bosnischen Kaffee – ein starkes Gebräu aus fein gemahlenem und ohne Filter aufgebrühtem Kaffeepulver. Die Kellnerin bringt ihn mit den Worten: „Hier ist ihr türkischer Kaffee!“ Wenige Tage später bestellt die gleiche Kollegin in Banja Luka, der Hauptstadt der Republika Srpska, einen türkischen Kaffee. Der Kellner ist aufgebracht, und überhaupt hat er nur Instant-Cappucino und Nescafe. „Evo je Srbija,“ heißt es – „Das hier ist Serbien.“ Nur, dass es eigentlich Bosnien und Herzegowina ist. Das Land, in dem es ein politischer Akt ist, sich einen Kaffee zu bestellen.
Mariella Gronenthal ist wissenschaftlich-pädagogische Mitarbeiterin am GESW. Sie war vom 21. bis 30. April 2017 Teilnehmerin des Fachprogramms Bosnien & Herzegowina des AdB. Neun Tage lang haben Menschen aus der Jugend- und Erwachsenenbildung Bosnien und Herzegowina bereist, Land und Leute kennengelernt und sich mit Möglichkeiten der Friedenserziehung auseinandergesetzt.