von Navina Engelage
Oft empfinde ich lange Fahrten in Regionalzügen, die für mich zu fast jedem Wochenende gehören, als vergeudete Lebenszeit: In vielen Fällen nervt eine unangenehme Geräuschkulisse, die mir ein Abschalten mit Musik und entspanntem Lesen unmöglich macht. Auch diese Fahrt verspricht zunächst nervenaufreibend zu werden. Als ich einsteige, ist der Zug bereits rappelvoll, so dass ich mich an Gepäck, zwei Bierkästen und feiernden BVB-Fans vorbeiquetschen muss, um einen der letzten Plätze im Wagen zu erreichen. Ich setze mich und krame in meiner Tasche nach dem Kopfhörer, als das Handy des jungen Mannes neben mir klingelt.
Er hat schwarze Haare und einen braunen Teint. „Spricht er Arabisch?“ frage ich mich, als er zu telefonieren beginnt. Vielleicht ist er ein Geflüchteter aus Syrien oder ein Student aus Tunesien? Kurz vor Bielefeld ist sein Handyempfang gestört. Er legt auf. Bevor ich weiter rätsele, spreche ich ihn an. Er versteht Deutsch problemlos und antwortet: Ja, er habe Arabisch mit seinem Bruder gesprochen. Ich frage, woher er kommt. „Aleppo.“ Bilder tauchen in meinem Kopf auf von Krieg, Bomben und Zerstörung. Seit eineinhalb Jahren sei er nun hier. „Geflüchtet“, frage ich. Nein, er habe ein Visum zum Studieren bekommen, Bauingenieurwesen. Inzwischen sei er aber als Flüchtling anerkannt. In Aleppo habe er kurz vor dem Examen gestanden. Als immer mehr Kommilitonen in die syrische Armee einberufen wurden, habe ihn seine Familie nach Deutschland geschickt. Er reiste über den Libanon mit dem Flugzeug aus, mehrere tausend Euro musste seine Familie dafür auslegen. Sein älterer Bruder schaffte es über die Balkanroute bis München. Dort studiert er inzwischen Mathematik. „Was ist mit den Eltern?“ erkundige ich mich vorsichtig. Der junge Mann beginnt zu zittern. Dann antwortet er leise: „Die sind noch in Aleppo. Mein Vater will bleiben.“
Auf der Strecke nach Essen erzählt mir Hadi (Name geändert) mit Bedrückung aber auch Stolz in der Stimme von seinem Leben in Aleppo vor dem Krieg. Wir sprechen auch über Religion und Politik. Er ist Sunnit. Einige seiner Freunde gehörten der christlichen Minderheit in Aleppo an. Noch vor dem Krieg seien solche Kontakte für ihn selbstverständlich gewesen, berichtet er mir. Mit dem Krieg sei die Trennung gekommen. Mich interessiert seine Einschätzung zur derzeitigen politischen Lage in Syrien. Doch Hadi blockt ab. Mit den vielen widerstreitenden Gruppierungen und Interessen in Syrien, damit möchte er nichts zu tun haben. Wie die meisten Syrer wolle er lediglich „ein ganz normales Leben“ führen. Politik interessiere ihn nicht.
Was ist das Wichtigste für ihn im Leben? „Humanity“, sagt er auf Englisch. „Menschlichkeit“, erwidere ich, „ein großes Wort. Was bedeutet das aber konkret?“ „Es bedeutet, die Menschen – egal welcher Herkunft und Religion sie auch sind – gleich zu behandeln. In Syrien habe ich oft Diskriminierung erlebt. Da war es wichtig, aus welchem Stadtteil jemand stammt und wie viel Geld er besaß. In Deutschland ist das besser.“
Als Hadi den Zug verlässt, bin ich dankbar für diese Begegnung und ein den Horizont erweiterndes Gespräch.
Navina Engelage ist wissenschaftlich-pädagogische Mitarbeiterin im GESW.
Ein schöner Text!