von Kilian Keller
Brüssel – „Hast du einen Opa, schick ihn nach Europa“. Diese Redensart beherrschte lange das Bild, das sich viele von der EU machten. Schülerinnen und Schüler des diesjährigen Abiturjahrgangs des Cusanus-Gymnasiums wollten sich dazu ein eigenes Bild machen und reisten für vier Tage nach Brüssel, in die inoffizielle Hauptstadt der EU.
Mit der EU, ihrer Geschichte und Arbeitsweise setzten sie sich in den vorangegangenen Wochen intensiv im Fach Sozialwissenschaften auseinander. Damit waren sie bestens vorbereitet, um Politiker, leitende Mitarbeiter und Journalisten zu den zahlreichen brisanten Themen wie das Ausscheiden Großbritanniens, die Flüchtlingspolitik, das drohende Zerwürfnis mit den derzeitigen Regierungen von Ungarn und Polen und vieles mehr zu befragen. So machte sich eine Gruppe aus 30 Jugendlichen des Cusanus-Gymnasiums Erkelenz unter der Leitung der beiden Lehrer Frau Monika Stephan-Ragazzi und Herr Dr. Kenan Holger Irmak am 7. Januar auf den Weg nach Brüssel.
Organisiert wurde die Fahrt, wie schon in den sieben Jahren zuvor, gemeinsam mit dem gemeinnützigen Gesamteuropäischen Studienwerk, weshalb der Institutsleiter Dr. Gerhard Schüsselbauer die Schülergruppe begleitete, zu den Terminen und durch Brüssel als wichtigsten EU-Standort und als Kulturstadt führte.
Bereits bei dem ersten Besuch in der Europäischen Kommission ergab sich die Möglichkeit, in einer offenen Diskussion mit der Mitarbeiterin Frau Bettina Appel viele Interna über den politischen Alltag zu erfahren. Der von Schülern geäußerten Kritik am schwer durchschaubaren Gesetzgebungsprozess wich Frau Appel nicht aus. Sie erklärte anschaulich, dass 28 Mitgliedsstaaten sehr unterschiedliche Interessen und Mentalitäten mitbrächten, die gehört und verstanden werden müssten, damit Europa Politik für alle machen könne. Und dem Vorwurf, die Kommission würde mit unzähligen und unsinnigen Richtlinien die EU überregulieren, entgegnete sie, dass ihre Zahl drastisch zurückgegangen sei und beispielsweise Vorhaben wie die zur Vereinheitlichung von Steckdosen auch fallen gelassen würden, wenn der Nutzen den Aufwand nicht aufwiege.
Später hatten die Schüler noch die Möglichkeit, im Ministerrat mit Thomas Brandtner, einem sehr kompetenten, langjährigen Referatsleiter aus Österreich zu diskutieren. Im offiziellen Sitzungssaal, welcher sonst bei Treffen der Außenminister der europäischen Mitgliedsstaaten genutzt wird, diskutierte er ganz freimütig mit den Schülern zum Beispiel die These, dass die EU ohne den Euro als Gemeinschaftswährung 2008/9 an der schlimmsten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit zerbrochen wäre.
Um das Institutionsgefüge zu komplettieren, stand auch der Besuch des Parlaments auf dem Reiseplan. Neben einer Führung durch das Parlament mit seinen 750 Sitzen und 24 Übersetzerkabinen für alle Amtssprachen der EU war der Höhepunkt für die Schülergruppe das Treffen mit Elmar Brok: dem dienstältesten Abgeordneten des Europäischen Parlaments. Aufgrund seiner großen Erfahrung konnte er den Schülern schildern, wie er den Wandel der EU in den letzten Jahrzehnten wahrgenommen hat. Er berichtete den Schülern von seiner Arbeit an den wichtigsten europäischen Verträgen und bezog Stellung zu Fragen, die die Schüler aus dem Unterricht mitgebracht hatten. So bewertete er die Ost-Erweiterung der EU und das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei insgesamt positiv und gab offen seine Einschätzung zur Zukunft der EU. Der Schüler Christopher Depta, selbst politisch engagiert, urteilte nach dem Treffen: „Brok hat klipp und klar Stellung zu drängenden politischen Themen bezogen und Vorurteile wie Deutschland sei der Zahlmeister der EU ausgeräumt. Besonders positiv empfand ich dabei, wie eingehend er die Fragen der Schüler beantwortet hat.“ Überrascht waren alle, dass Brok der Kritik aus seiner eigenen Partei, der CDU und CSU, an der jüngst geäußerten Vision von Martin Schulz (SPD) zur EU als Vereinigte Staaten von Europa mit dem Verweis widersprach, dass einst der beliebte CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß schon in den 1960er Jahren dieselbe Vorstellung von einem künftigen Europa vertrat.
Da das zweite Standbein der EU die Mitgliedsstaaten selbst sind, besuchte die Schülergruppe beispielhaft die ständige Vertretung Irlands und sprach mit dem Chefdiplomaten für die Fragen rund um den Brexit, Herrn David Brück – natürlich auf Englisch. Er machte sehr klar, dass ein Scheitern der Austrittsverhandlungen mit Großbritannien dazu führen könnte, dass die Grenze im geteilten Irland wieder – wie noch vor 1998 – hochgerüstet und Zielscheibe von irischen Terroristen auf beiden Seiten werden könnte. Kritik kam von den Schülern daran, dass Irland mit seiner Steuerpolitik gegenüber amerikanischen Großkonzernen wie Apple letztlich ganz Europa schade. David Brück legte nahe, dass hier eine faire Lösung für sein Land und die EU gefunden werden könne.
Zu Europa gehören schließlich auch die zahllosen Interessengruppen. Beim Besuch der weltweit aktiven Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch erhielten die Schüler Einblick, wie sich ein gemeinnütziger Verein gegenüber den großen Wirtschaftsverbänden politisch Gehör zu verschaffen versucht. So war dieser es, der vorletztes Jahr bereits die massenhaften Menschenrechtsverletzungen gegenüber der muslimischen Minderheit in Myanmar aufgedeckt hatte, fatalerweise ohne besonders ernst genommen zu werden. Auch hier zeigten die Jugendlichen, wie problemlos sie sich auf Englisch verständigen konnten.
Was wäre Politik ohne die Medien! Daher rundet der Besuch des ARD-Studios in Brüssel die Reise ab. Dort sprachen die Schüler mit dem Korrespondenten Michael Grytz über Fake News und das umstrittene Netzdurchsetzungsgesetz. Besonders spannend war für die Schüler zudem das Fernsehstudio. Dort hatten die Schüler die Möglichkeit, vor der Kamera die Tagesthemen vom Teleprompter nachzusprechen.
Die Resonanz zu der Fahrt war durchweg positiv. Den Schülern habe sich Möglichkeit eröffnet, die ein Bürger sonst nicht ohne Weiteres hat. Die 17-jährige Nadia Aglan bewertete die Fahrt als „unglaublich aufschlussreich und sehr interessant. Diese Fahrt lässt Europa in einem völlig neuen Licht erscheinen, denn die europäische Politik ist wichtiger als man denkt und nur eine hohe Wahlbeteiligung stärkt die Stimme der Bürger.“ Ihr Lehrer Dr. Irmak zeigte sich sehr angetan von diesen Jugendlichen, die einen wahren Terminmarathon auf inhaltlich hohem Niveau gemeistert und sich als engagierte Europäer gezeigt hätten. Daneben kam der Spaß in dieser einladenden Stadt nicht zu kurz. Ermuntert durch all diese Erfahrungen wird die Fachgruppe Sozialwissenschaften des Cusanus-Gymnasiums im nächsten Jahr – dann bereits zum neunten Mal – interessierten Schülerinnen und Schülern erneut eine derartige Studienfahrt, die fester Bestandteil des Schulprogramms ist, mit einem abwechslungsreichen Ablauf anbieten: wenige Monate vor der nächsten Europawahl, die entscheidet, wer uns als Europäer im Parlament vertritt.
Fotos: Annegret Koltze