Ein Kommentar von Dr. Gerhard Schüsselbauer
Ist das massive Erstarken des Rechtspopulismus eine veritable Gefahr für die klassische (Parteien-) Demokratie in Europa? Alle arrivierten Parteien in Europa zittern mehr oder weniger vor dem Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai 2019, da eine erdrutschartige Verschiebung der Parteienlandschaft zu befürchten steht. Die Lähmungen, die die permanente Uneinigkeit im Rat der EU, dem operativen Entscheidungsorgan der EU, über Grundsatzfragen und die fehlende Umsetzung von strategischen Visionen im Europäischen Rat, dem übergeordneten Leitungsorgan der noch 28 EU-Staaten, führen zu einem radikalen Ausnutzen dieses Vakuums durch (rechts-) populistische Parteien und Strömungen. Zudem werden der Brexit-Schock und die endlosen Diskussionen über diese einschneidende Entwicklung in der EU das Wahlverhalten der EU-Bürger*innen bei den kommenden Wahlen stark beeinflussen.
Es entspringt einer typischen westeuropäischen journalistischen Naivität und Kurzsichtigkeit, die demokratie- und rechtsstaatsgefährdenden Tendenzen fast ausschließlich auf Ostmitteleuropa zu beziehen (siehe den Artikel in „Die Zeit“ vom 7. Februar 2019, „Der Zerfall beginnt im Osten Europas“). Kaczyński und Orbán sind gern gesehene Feindbilder der linksliberalen Öffentlichkeit, ohne die wahren Muster des Erstarkens dieser Politiker zu verstehen. Richtig ist, dass rechtspopulistische, ultranationale Regierungsparteien in Polen und in Ungarn das Zeitalter der illiberalen Demokratie längst eingeläutet haben. Richtig ist aber auch, dass massive Strömungen und auch Parteien, teilweise mit Regierungs-beteiligung, fast überall im Rest der EU-Länder existieren, die den demokratischen Diskurs und vor allem die Balance der über viele Jahrzehnte hinweg eingeübten Gewaltenteilung zerstören. Man mag an die Entwicklungen in Frankreich genauso denken wie die politische Entwicklung Italiens oder Österreichs und natürlich das Erstarken der „Facebook-Partei“ AfD in Deutschland. Das „fremde Bild vom Mythos des Westens“ spielt hierbei in Ostmitteleuropa eine ganz maßgebliche Rolle, denn es hinterließ nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und Sozialismus eine Identitätslücke und kann nun rigoros von Rechtspopulisten und Ultrakonservativen ausgenutzt werden. Paradoxerweise haben Wirtschafts-wachstum und steigender Wohlstand sowie Massenkaufkraft in den Ländern Ostmitteleuropas dazu geführt, dass ultrakonservative Parteien oder auch zweifelhafte Milliardäre wie der tschechische Ministerpräsident Andrej Babiš die latenten Ängste vor Überfremdung und Massenzuwanderung leicht instrumentalisieren können. So stilisieren sich einige politische Gallionsfiguren der Ultrakonservativen und Rechtspopulisten als Retter des christlichen Abendlandes, gleichsam als Märtyrer der weißen europäischen Rasse hoch. Die Trumpisierung ist in EU-ropa in vollem Gange!
Die vollkommen veränderte Medien- und Öffentlichkeitslandschaft und die Dominanz von Social Media hat massive Auswirkungen auf die klassische Demokratie in Zeiten von Fake News und einer außer Kontrolle geratenen Emotionalisierung. Liebe und Empathie sind auch im politischen Diskurs von enormer Bedeutung, leider sind sie aber nur die zweitstärksten Gefühle, die Menschen kennen. Angst und Hass scheinen viel stärker zu sein. Gerade hier zeigt sich die tiefgreifende Krise der liberalen Kräfte und Eliten sowie die ausgeprägte Schwäche der sozialistischen bzw. sozialdemokratischen Parteien. Sie hinterlassen eine Lücke, die von rechts- und auch von linkspopulistischen Parteien und Strömungen gnadenlos, teilweise gar menschverachtend und emotionalisiert ausgenutzt werden kann.
Der antidemokratische Illiberalismus Orbánscher Prägung wird dabei auch von beinahe allen rechts-populistischen Kräften und Strömungen in Europa uneingeschränkt geteilt. Sowohl die polnische als auch die ungarische nationalkonservativ-rechtspopulistische Regierung haben aus der Vergangenheit gelernt und wissen, dass es beim Umbau des politischen Systems und der Erosion der Gewaltenteilung zugunsten der Exekutive vor allem auf zweierlei ankommt: das Justizwesen zwingend unter Regierungskontrolle bringen und die Medienvielfalt eindämmen, und hier vor allem das Fernsehen kontrollieren! Die deutsche AfD hat sehr schnell begriffen, wie stark die Machtposition von Social Media, insbesondere die Datensammelwut bei Facebook ist, und wie sich diese Medien nutzen lassen, um Ausgrenzung, Ablehnung, Hass und Intoleranz schüren zu können.
Genauer betrachtet bedient sich der Populismus gerade des Anti-Elitarismus und des Anti-Intellektualismus und richtet sich gegen die elitären Institutionen der EU sowie die ratlosen politischen Eliten in den EU-Staaten. Frankreichs Präsident Macron und auch die von Pragmatismus geprägte Standhaftigkeit der Kanzlerin mögen eine Ausnahme sein, aber die fortwährenden Proteste der „Gelbwesten“ in Frankreich zeigen, dass es nicht reicht, die schweigende Mehrheit der Bevölkerung hinter sich zu wissen, sondern aktive gestalterische Politik in Zeiten enormen dynamischen Wandels zu betreiben. Gerade gegen die Moralisierung, Polarisierung und Personalisierung der Politik durch die Rechtspopulisten fehlen bislang wirklich stichhaltige Antworten von Seiten der erodierenden Volks-parteien. Vor allem der Rechtspopulismus mit seiner Feindseligkeit gegen Kompromisse und ausgewogene Kommunikation bedient dabei die in der Bevölkerung weitverbreitete Ablehnung der institutionellen, komplexen Verflechtungen in der EU. Komplexitätsreduktion, Dramatisierung und Emotionalisierung prägen die massenmediale Kommunikation wie auch die Logik des Populismus. Dabei ist die EU in sehr positivem Sinne ein friedenstiftendes, konfliktvermeidendes „k.u.k.u.k“-Reich. Kommunikation, Kooperation und Kompromisse sind der Antrieb des Erhalts und der Weiterentwicklung der EU und ihrer Institutionen. Dies zu verteidigen wird die große Aufgabe der nächsten Jahre sein. 2017 veröffentlichte der französische Schriftsteller Olivier Guez den aufsehenerregenden Roman „Das Verschwinden des Josef Mengele“. Darin heißt es am Schluss: „Immer nach zwei oder drei Generationen, wenn das Gedächtnis verkümmert und die letzten Zeugen der vorherigen Massaker sterben, erlöscht die Vernunft, und die Menschen säen wieder das Böse. Fern mögen weichen die Traumgebilde trügerischer Vorstellungen der Nacht. Nehmen wir uns in Acht, der Mensch ist ein formbares Geschöpf, nehmen wir uns vor den Menschen in Acht.“
Viktor Orbán, Jarosław Kaczyński, Marine Le Pen, Geert Wilders, Matteo Salvini, Alexander Gauland & Alice Weidel, aber auch Sebastian Kurz – sie alle sehen sich als selbsternannte „Retter des Abendlandes“ gegen den von ihnen so bezeichneten Irrsinn des Multikulturalismus und Liberalismus. In Wirklichkeit sind sie die Feinde der offenen Gesellschaft in Europa (in Anlehnung an Karl Poppers fundamentales Werk). Gegen diese machtvollen Positionen muss viel mehr zivilgesellschaftliches Engagement auftreten, um drohende tektonische Verschiebungen zu verhindern.
Dr. Gerhard Schüsselbauer ist Institutsleiter und wissenschaftlich-pädagogischer Mitarbeiter am GESW.