Der ungarischstämmige US-Milliardär George (György) Soros sowie der Präsident der Europäischen Kommission Jean-Claude Juncker werden auf einem von der ungarischen Fidesz-Regierung in ganzen Land verbreiteten Werbeplakat geradezu dämonisiert, indem sie in der Flüchtlings- und Migrationsfrage als Unheilsbringer dargestellt werden. „Auch Sie haben das Recht zu wissen, worauf sich Brüssel vorbereitet“, steht auf dem Plakat.
Um einen lebendigen Eindruck von der noch lebendigeren und pulsierenden Stadt Budapest und dem Land Ungarn zu gewinnen, machten sich über 30 Studierende der Universität Bielefeld gemeinsam mit mir auf, mehr über Hintergründe der gegenwärtigen Situation im von Viktor Orbán und seiner Parteiriege dominierten EU-Mitgliedstaat in Erfahrung zu bringen. Deutsche Medien berichten bekanntermaßen seit langem sehr kritisch über die Arbeit der ultrakonservativen und rechtspopulistischen Fidesz-Regierung. Treffen mit Richtern des Obersten Gerichtshofes, einer Vertreterin eines Wirtschaftsforschungsinstitutes der zunehmend unter Druck geratenen Ungarischen Akademie der Wissenschaften sowie einem Professor der renommierten Central European University machten deutlich, dass sich Ungarn in der Tat in Richtung der bereits 2014 von Viktor Orbán selbst ausgerufenen „illiberalen“ Demokratie bewegt. Man muss wissen, dass „liberal“ im Ungarischen völlig anders verstanden wird als bspw. im Deutschen und zu einem hässlichen und abwertenden Schimpfwort verkommen ist. Der Mythos vom liberalen, multikulturellen und toleranten „Westen“ wurde in Ungarn längst gnadenlos entzaubert. Orbáns Gehirnwäsche durch die vollständig kontrollierten klassischen Medien Fernsehen, Radio und Print zeigt nachhaltig ihre Wirkung, konnte doch die Regierungspartei Fidesz bei den Wahlen zum Europäischen Parlament mit 52,6 % der Stimmen bei 43,5 % Wahlbeteiligung deutlich die Mehrheit hinter sich vereinen.
Warum sitzt Viktor Orbán trotz vieler Demonstrationen so felsenfest im Sattel und kann kaum herausgefordert werden? Neben der zersplitterten Opposition spielen die Machtfülle der Fidesz-Regierung und die tektonischen Verschiebungen der Gewaltenteilung und vor allem der Medienlandschaft zugunsten der Exekutive eine maßgebliche Rolle. Ob die Regierung tatsächlich auch das Justizwesen massiv beeinflusst oder gar völlig unter Kontrolle hat, konnte beim Besuch im Obersten Gerichtshof (Kúria) nicht geklärt werden. Eine starke wirtschaftliche Entwicklung aufgrund ausländischer Direktinvestitionen und schwache Gewerkschaften tragen dazu bei, dass der nationalkonservative Kurs der Regierung Anklang bei weiten Teilen der Bevölkerung findet. Man kann sogar so weit gehen zu behaupten, dass in Ungarn viele Modernisierungsschritte seit der Wendezeit und dem Untergang des Sozialismus rückgängig gemacht wurden und sich daher eine autokratische Regierungsform etablieren konnte. Der Illusion vom „Mythos des Westens“ und den liberalen Lebensformen scheint Orbán endgültig den Garaus machen zu können. Und gerade seine ausgeprägte, gleichsam pathologische Brüsselfeindlichkeit und Betonung der Selbstbestimmung in allen wichtigen politischen Fragen (Migration, Asyl, Umgang mit Geflüchteten, Budget) findet große Zustimmung in der Bevölkerung. Das ewig alte Muster des Sündenbocks außerhalb einer künstlich konstruierten Volksgemeinschaft funktioniert einwandfrei! Nichtsdestotrotz findet man in Budapest eine Fülle auch an subkulturellem Leben, das sich abseits des Einflusses der Regierung entwickelt. Neben den aktuellen Fragestellungen spielten auch historische Aspekte der Erfahrungen im 20. Jahrhundert während der Studientag eine wichtige Rolle, sodass die Studierenden ein detailliertes und umfassendes Bild gewinnen konnten.