Dr. Gerhard Schüsselbauer
Die dramatischen gesundheitspolitischen Entwicklungen im Gefolge der Covid-19-Pandemie in den Ländern Südosteuropas zeigen die Notwendigkeit, die zweifellos bestehende Erweiterungsmüdigkeit der EU („enlargement fatigue“) zu überwinden. Alle Länder in diesem Raum kämpfen mit gewaltigen Herausforderungen im Gesundheitswesen.
So wie die Pandemie nur durch eine gemeinsame Kraftanstrengung aller (europäischen) Staaten nachhaltig bekämpft werden kann, so muss zudem in einer gemeinsamen Initiative in den Erweiterungsprozess neuer Schwung gebracht werden. Vor allem vor dem Hintergrund der massiven Einflussnahme Russland, der Türkei, aber auch Chinas durch das großangelegte Seidenstraßenprojekt muss sich die EU viel stärker und ambitionierter positionieren. Zum grundsätzlichen Verständnis der komplexen Thematik sollte man sich vor Augen halten, was das eigentliche Ziel der Erweiterung der EU ist.
These 1: Armut und wirtschaftliche Unterentwicklung allein sind kein Integrationshindernis.
Die objektiv messbare ökonomische Rückständigkeit der südost- und osteuropäischen Transformationsländer allein ist kein hinreichendes Argument, die reale Integration dieser Ländergruppe hinauszuschieben. Integrationstheoretische Ansätze befürworten vielmehr eine rasche Ausdehnung der ordnungspolitischen Regelungen des europäischen Binnenmarktes auf die Güter-, Dienstleistungs- und Kapitalmärkte sowie die Wirtschaftsräume der Beitrittsländer und Kandidatenländer in Südosteuropa. Obwohl das Wohlstandsgefälle zwischen den meisten EU-Staaten (Ausnahmen bilden hierbei Griechenland und Portugal) und den Beitrittskandidaten gemessen am Bruttoinlandsprodukt pro Kopf zu Kaufkraftparitäten offensichtlich bleibt, können die meisten Beitrittsländer enorme Aufholprozesse vorweisen. Eine deutlich gestiegene Wettbewerbsfähigkeit sowie anhaltend positive Wachstumszahlen tragen dazu bei, die Erfolge der mitunter sehr harten Anpassungsmaßnahmen zu erklären. Ein struktureller Aufholprozess ist zumindest bei den fortgeschrittenen Kandidaten deutlich auszumachen. Dieser umfasst die von der EU definierte „Strukturreife“, dem Wettbewerbsdruck des hoch entwickelten Binnenmarktes Stand zu halten. Allerdings lassen sich gravierende Unterschiede identifizieren. Tatsächlich lassen sich insbesondere bei den EU-Ländern Bulgarien und Rumänien gravierende Defizite in der realwirtschaftlichen Anpassung und im Funktionieren der politischen und rechtsstaatlichen Institutionen identifizieren. Eine hohe versteckte Arbeitslosigkeit sowie niedrige Realeinkommen lassen vermuten, dass das Migrationspotenzial der Arbeitskräfte in vielen Ländern des Balkans sehr hoch ist. Entscheidend ist aber letztendlich die Frage, wie auch Länder, die nicht zu den „Ins“ der EU-Architektur gehören, von der Erweiterung der EU profitieren können und wie sie in eine tragfähige Architektur wirtschaftlicher Kooperation eingebaut werden können. Hier liegt eine der eigentlichen Herausforderungen für die Zukunft Europas.
These 2: Eine Belebung des Handels und eine stärkere wirtschaftliche Verflechtung sind kein Nullsummenspiel, denn beide Partnerländer, beide Partnerregionen gewinnen dabei.
Direkte Handelsgewinne und handelsschaffende Effekte lassen sich insbesondere durch vergrößerte Absatzmärkte und die damit verbundene Ausnutzung von komparativen Kostenvorteilen realisieren. Gerade exportorientierte, offene europäische Volkswirtschaften profitieren in besonderem Maße von einer Ausdehnung der vier Grundfreiheiten des europäischen Binnenmarktes auf Ostmittel- und Südosteuropa. Für die Länder des Donauraumes bringt die Erweiterung der Europäischen Union eine stärkere wirtschaftliche Verflechtung des europäischen Wirtschaftsraumes mit sich. Die Dynamik eines erweiterten Binnenmarktes sowie die durch den gestiegenen Wettbewerbsdruck initiierten Anpassungsprozesse eröffnen Wachstumspotenziale, die durch eine entgegengesetzte Politik der Abschottung und des Protektionismus verhindert werden würden. Allerdings ist es gerade in den Ländern Südosteuropas noch ein weiter und steiniger Weg zu einer etablierten marktwirtschaftlichen Ordnung, die die Hauptmerkmale liberalisierte Güter- und Faktormärkte und Reformen der sozialen Sicherungssysteme aufweist. Gerade die Covid-19-Pandemie offenbart die massiven Probleme im Gesundheitssystem und den Brain Drain von Fachkräften aus Südosteuropa.
These 3: Integration entschärft ethnische Konfliktpotenziale.
In stabilitätspolitischer Hinsicht bringt die Erweiterung der EU zweierlei mit sich: Erstens leisten offene Grenzen und die Ausdehnung des Binnenmarktes in Verbindung mit einer politischen Einbindung einen wesentlichen Beitrag, um eine Verbesserung zwischenstaatlicher Beziehungen herbeizuführen sowie soziale und ethnische Konfliktpotenziale zu entschärfen. Zweitens üben die europäische Wirtschaftspolitik und die gemeinsame Währung Euro eine wichtige Rolle als Stabilitätsanker für die Beitrittskandidaten aus. Dass der Prozess der EU-Erweiterung die realwirtschaftlichen Strukturen nachhaltig und einschneidend verändert, ist eine unumstößliche Tatsache. Er erzwingt nicht nur weitere Reformen im institutionellen Gefüge, sondern macht auch eine „ordnungspolitische Frischzellenkur“ in der Wirtschaftspolitik der Europäischen Union selbst notwendig. Durch die Beitrittsprozesse ist zweifellos eine Intensivierung des politischen Dialogs zwischen den Unionsländern und den Beitrittskandidaten eingetreten. Der Dialog darf jedoch nicht auf der Ebene der jetzigen Kandidaten verharren, sondern muss weitere europäische Länder einbeziehen. Die EU muss sich als offene Gemeinschaft zeigen, um die Fehler der Vergangenheit vermeiden zu können. Europa endet nicht südlich von Mohács (Ungarn) oder am Eisernen Tor (Serbien/Rumänien) oder etwa am Bug, dem Grenzfluss zwischen Polen und der Ukraine.
Die Dynamik der Integration, aber auch die Problematik der Übernahme des Rechtsbesitzstandes der EU „(Acquis Communautaire“) sowie der Erweiterungsfähigkeit der EU selbst begünstigen zwei höchst unterschiedliche Tendenzen: In positiver Hinsicht können lange bestehende Konfliktpotenziale, die aus der Zeit des „Ost-West-Gegensatzes“ herrühren, abgebaut werden. Negativ bleibt anzumerken, dass auf der einen Seite durch die komplizierten Binnenmarktregelungen und den Wildwuchs der europäischen Bürokratie eine deutliche Politikverdrossenheit bei den Bürgern zu beobachten ist. Auf der anderen Seite ist zu beobachten, dass die Länge und Komplexität des Beitrittsprozesses dazu führen, dass die Zustimmung in der Bevölkerung der Beitrittsländer sukzessive sinkt. Nur durch eine konsequente und offene Diskussion der wahren Kosten und Nutzen der EU-Erweiterung lässt sich dieser Tendenz entgegenwirken.