Raus aus der Pandemiestarre – Europa neu gestalten!

Dr. Gerhard Schüsselbauer

Nach wie vor ist die Gestaltung der Zukunft der EU und Europas vor allem ein Elitenprojekt. Gerade die Covid-19-Pandemie hat einen deutlichen Rückzug der aktiven Beteiligung von Bürger*innen nach sich gezogen. Die Menschen kümmern sich viel stärker um Privates wie Arbeitswelt, Gesundheit, Familie und Bildung als um übergreifende Themenkomplexe. Die Wahrnehmung, dass die EU vor allem in Fragen der Pandemie auf eine schlecht vorbereitete, überbürokratische und unflexible Gemeinschaft zur Impfstoffbeschaffung reduziert wird, ist wenig hilfreich im Hinblick auf die zukünftige Gestalt unseres sozialen Lebens in der EU.

Denn genau die Ausgestaltung der sozialen Lebenswelten ist der Zusammenschluss unserer europäischen Länder auch! Dem Top-down, also den Initiativen seitens der EU-Institutionen zur Weiterentwicklung der europäischen Strukturen, muss auch der dynamische Prozess des Bottom-up, dem aktiven Einmischen einer europäischen Zivilgesellschaft, folgen.

Rückblickend brachten die historischen Daten der EU-Erweiterungen oder des Brexit im Jahr 2020 und Anfang 2021 die EU zwar nicht ans Tor zu einer vielzitierten epochalen Zeitenwende. Vielmehr wurde mit den Erweiterungen zunächst eine nicht unproblematische, wenn auch bedeutsame Frischzellenkur, ein belebendes, jedoch nicht konfliktfreies Facelifting der „alten“ EU wahrgenommen. Ein flüchtiger Blick in die Geschichte genügt, um zu sehen, dass Europa immer eine dynamische Idee, nie ein statisches Konzept, ja nicht einmal ein fest umrissener Kontinent, sondern sehr oft allerdings auf tragische Art und Weise durch viele Kriege und Konflikte von sich selbst entfremdet war. Schon Herodot warf die Frage nach dem Kontinent Europa auf. Im Westen sei Europa vom Wasser umspült, im Osten grenze es an Persien, ansonsten kennen wir seine genaue Gestalt nicht. Die Menschen in Europa müssen begreifen, dass die Einheit in der Vielfalt liegt und nicht Vielfalt durch eine krampfhafte Einheit gepredigt wird. Im Kleinen und im Individuellen erweist sich die Zivilisiertheit und Einfachheit. Einfachheit ist dabei nicht gleichzusetzen mit Primitivität oder Rückständigkeit.

Entscheidend ist das institutionelle und finanzielle Rahmenwerk, das für die Beschlüsse zur Bekämpfung der gewaltigen Herausforderungen durch die Covid-19-Pandemie maßgeblich ist, sowie auch konkrete Politikbereiche wie die Weiterentwicklung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) oder die Neuausrichtung der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Die weitreichende Umsetzung der Haushaltsperiode 2021 bis 2027 im Verein mit neuen Strategien zur Weiterentwicklung der EU, die Integration weiterer Kandidatenländer wie Serbien, Montenegro und Nordmazedonien oder das Verhältnis zur Türkei werden die Zukunft der EU ebenso dominieren wie die grundsätzliche Fragestellung nach dem Spagat bzw. dem Ausgleich zwischen Vertiefung und Erweiterung der EU. Immer wieder taucht dabei das Problem der optimalen Größe des supranationalen Staatenverbundes EU und, nach den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts, die Frage der exakten Abgrenzung von EU-Kompetenzen und nationalstaatlicher bzw. bundesstaatlicher Zuständigkeit auf. Im Prinzip kann dieser Aspekt sogar bis zu Aristoteles zurückverfolgt werden, der bereits in seiner Politik die Frage nach den Grundlagen und der optimalen Größe des Gemeinwesens aufgeworfen hatte. Möglich ist natürlich auch eine völlig neue Konstruktion der EU als variable Gemeinschaft(en), die sich vom starren System der bisherigen Entwicklung seit den 1950er Jahren abkoppelt und variable Strukturen erlaubt, wobei eine sehr enge Zusammenarbeit von kooperationsbereiten Partnerländern möglich sein soll. Dieser Pioniergedanke sollte ein wichtiger Stützpfeiler für die zukünftige Gestalt der EU sein. Ein „Weiter-so“ wie unter vorhergehenden Präsidenten der Europäischen Kommission ist aufgrund der Quantensprünge, die die Pandemie und die Klimapolitik abverlangen, kaum denkbar. Für die Gestaltung der Zukunft der EU muss auf jeden Fall der dynamischen politischen und ökonomischen Entwicklung in den Mitgliedstaaten Rechnung getragen werden. Zukunftsfähigkeit erweist sich nur in der Anpassungsfähigkeit und Flexibilität, denn das sind grundlegende Lehren aus der Covid-19-Pandemie.