Dr. Gerhard Schüsselbauer
Ungarn kann mit Recht stolz darauf sein, wie weit sich das Land von den totalitären Herrschaftsformen des 20. Jahrhunderts entfernt hat. Ungarn kann auch auf viele kulturelle und technologische Errungenschaften stolz sein, die die Welt bereichert haben. Aber der Zusammenbruch des Kommunismus bedeutet nicht das „Ende der Geschichte“ (nach Francis Fukuyama) und notwendigerweise den Siegeszug freiheitlich-demokratischer und rechtsstaatlicher Grundordnungen.
Seit 2010 und genauer seit 2014 hat Viktor Orbán das unumstößliche Ziel ausgegeben, den ungarischen Staat und das Rechtssystem so weit umzubauen, dass eine „illiberale Demokratie“ auf dem Weg gebracht und letztendlich zementiert wird. Somit gibt es in Ungarn eine tektonische Verschiebung der Gewaltenteilung in Richtung Exekutive zulasten der Judikative sowie Legislative. Daraus haben Fidesz und ihr Parteichef und Ministerpräsident Orbán nie einen Hehl gemacht, sondern stets den Weg ihrer Programmatik klar aufgezeigt.
Die Verstöße gegen Rechtsstaatsprinzipien der EU als Rechtsgemeinschaft beschäftigen schon seit einigen Jahren die Öffentlichkeit und vor allem die Zusammenarbeit auf EU-Ebene. Dass die EU vor allem eine Rechtsgemeinschaft ist, in der die Rechte aller Arten von Minderheiten geachtet werden, hat Viktor Orbán und seine Regierungspartei Fidesz nie akzeptiert. Gern akzeptiert haben sie selbstverständlich die Nettozahlerposition in der EU und den Zustrom von Strukturfonds zur Weiterentwicklung der Infrastruktur des Landes. Profitiert haben davon nicht nur Ungarn, sondern auch alle anderen EU-Länder. Der Sport und die Spiele der Fußballeuropameisterschaft sind das beste Beispiel für Orbáns Grundsatz von „panem et circenses“ / Brot und Spiele für die Massen, denen er ein Gefühl von Patriotismus und völkischer Zusammengehörigkeit vermittelt.
Die verfassungsmäßige Festschreibung des „klassischen“ Familienbildes und die Geschlechtereingrenzung auf lediglich Frau und Mann zeigen, dass die Regierung unter Orbán nicht nur ihre ultrakonservativen Vorstellungen durchsetzt, sondern gleichsam auch einen Sündenbock braucht, um die Strömungen der Mehrheitsgesellschaft zu beeinflussen. LGBTQ soll per Gehirnwäsche aus den Köpfen der Menschen verbannt werden. Im Bildungssystem oder in der öffentlichen Diskussion ist kein Platz für Aufklärungskampagnen, Darstellungen, Vielfalt und Toleranz verschiedenster Lebensentwürfe. Damit zeigt sich die glasklar formulierte Geisteshaltung der ultrakonservativen und rechtsnationalen Regierung, die Angst vor einer sich einigenden Opposition hat, denn im Frühjahr 2022 finden die nächsten entscheidenden Parlamentswahlen statt.
Das „Eine“ und „Homogene“ der Fidesz-Ideologie muss sich immer vom „Anderen“, dem „Fremden“ abgrenzen. Die Liste der „Fremden“, die gleichsam zur Bedrohung oder gar zu Feinden stilisiert werden, ist lang: Geflüchtete und Asylsuchende ab 2015, Sinti und Roma oder auch die sehr verbreitete antisemitische Haltung (die selbstverständlich auch in Deutschland anzutreffen ist!).
Nicht hinnehmbar und geradezu unerträglich ist die unlautere und rechtlich haltlose Vermischung von Homosexualität und Pädophilie. Das ist ein glatter Bruch der europäischen Verfassungstradition, zumal Letztere durch das Strafgesetz geregelt wird, die Anerkennung von anderen als heterosexuellen Lebensformen oder Geschlechteridentitäten aber zivilrechtliche Aspekte betrifft, vor allem im Familien-, Erbschafts- oder Adoptionsrecht. Kritische Medien und Onlineplattformen in Ungarn sprechen von einem homophoben Gesetz, das die Entwicklung eines das Gleichheitspostulat achtenden Rechtssystems um Jahrzehnte zurückwirft. 157 der 199 Abgeordneten der ungarischen Landesversammlung stimmten für die neue Gesetzesfassung, linke und liberale Parteien verließen aus Protest die Abstimmung, während die rechtsextreme und offen schwulen- und judenfeindliche Partei Jobbik (übersetzt: die Rechten oder auch die Besseren) mit dem Fidesz stimmte. Damit offenbart sich erneut, dass die ungarische Regierung sich Lichtjahre von demokratischen und rechtsstaatlichen Grundsätzen der Wertegemeinschaft der EU entfernt hat.
Vor den im Frühjahr 2022 anstehenden Parlamentswahlen wird klar, es müssen noch viel mehr (junge) Menschen in Ungarn mobilisiert werden, um so etwas wie den „Pulse of Freedom, Diversity and Tolerance in Europe“ sowie weitere zivilgesellschaftliche Aktionen auf den Plan zu rufen und massiv zu stärken. Die jüngsten Großdemonstrationen zeigen unmissverständlich, dass sich die Oppositionellen gar als „Mehrheit“ verstehen. Sie wollen nun die Schweigenden dazu ermuntern, die bislang unumstößlich im Sattel sitzende Regierung von Viktor Orbán herauszufordern.