EU und China – die neue Seidenstraße

Dr. Gerhard Schüsselbauer

Blicken wir auf das Verhältnis der EU (27) zu China, dann hat die vielbeschworene Zukunft längst begonnen, denn tektonische Verschiebungen in der Geopolitik in Zeiten der Covid-19-Pandemie schreiten in rasantem Tempo voran. Die Covid-19-Pandemie verstärkt die Entwicklung sogar noch, da das autoritär regierte China sich ganz anderer als demokratisch legitimierter Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie durch rigorose Abriegelung bedient und wirtschaftlich viel schneller Wachstumsprozesse anstoßen kann.

Allen voran ragt die geopolitische Strategie Chinas „Belt and Road Initiative“ (BRI), auch bekannt als „neue Seidenstraße“, heraus. Das großangelegte Infrastrukturprojekt ist eines der größten Investitionsvorhaben des 21. Jahrhunderts und legt die weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Absichten der chinesischen Führung offen.

Einfachstes Beispiel der gegenwärtigen weltwirtschaftlichen Spannungen ist der leergefegte Markt für europäisches Qualitätsholz, das u.a. Richtung Bauboom in China über die neue Seidenstraße transportiert wird. Die Corona-Pandemie sowie die derzeitigen geringen Transportkapazitäten führen zu hohen Mehrkosten für Transporte über den Seeweg, steigenden Rohstoffpreisen und erheblichen Lieferverzögerungen, bedingt zudem durch enorme Rückstaus in Containerhäfen. Das verursacht massive Störungen in den Produktionsabläufen. Digitalisierung, Energiewende und Elektromobilität treiben die Nachfrage nach Rohstoffen für Zukunftstechnologien weiter nach oben. Die gigantische Investitionssumme von ca. 800 Mrd. Euro für das Seidenstraßenprojekt verdeutlicht auch die Abkehr vom Multilateralismus westlicher Prägung. Genau dies verhindern wollen die Beschlüsse des jüngsten G7-Gipfels im Juni 2021. Dabei sollen unter der Federführung der USA und der EU hunderte Milliarden Euro aus öffentlichen und privatwirtschaftlichen Quellen für Infrastrukturinvestitionen in Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen mobilisiert werden.

Die gewaltige Initiative ist gleichzusetzen mit Chinas Marshallplan. Offiziell soll eine große Familie der harmonischen Koexistenz entstehen, so formulierte dies 2017 der chinesische Staats- und Parteichef Xi Jinping. China investiert in afrikanische Häfen und zentral- und südostasiatische Bahnstrecken, es gründet Städte in Kasachstan und verlegt sogar Datenkabel im Mittelmeer. Es geht vor allem um Marktzugang und Investitionen außerhalb der chinesischen Volkswirtschaft, um die Abhängigkeit von chinesischen Technologieprodukten zu steigern. China ist längst von der Produktion von Textilien, Kugelschreibern oder Spielwaren (Produkte des 20. Jahrhunderts) übergegangen zu hochwertigen Technologieprodukten, für die die riesige chinesische Volkswirtschaft Rohstoffe aus der ganzen Welt benötigt und daher mit enormem Druck eigene Interessen verfolgt. Es geht den Strategen der Volksrepublik weniger um das Wohl der Menschheit als darum, die Welt ihren eigenen, autoritär-kapitalistischen Vorstellungen anzupassen. Gingen die europäische Expansion und der Tatendrang in den vergangenen Jahrhunderten noch von den Eroberungen, dem Imperialismus und Kolonialismus europäischer Mächte aus, so kehrt sich im 21. Jahrhundert die Zielrichtung vollständig um, um den eurasischen Kontinent gleichsam von Osten nach Westen zu beeinflussen. War Marco Polo noch im 13. Jahrhundert auf der Seidenstraße unterwegs und brachte reiche Erkenntnisse mit nach Europa, so geht es heute um ökonomische Faktoren wie Marktdurchdringung, Absatzmärkte und den Export von chinesischen Infrastrukturleistungen, aber auch um den Import von Wissen, Know-how und Technologien aus den hochentwickelten Industrieländern der EU.

Der Europäische Rechnungshof kritisiert massiv, dass fünfzehn EU-Mitgliedsländer bei der Vereinbarung bilateraler Handelsabkommen mit China im Rahmen der „Belt and Road Initiative BRI“ gegen EU-Regeln verstoßen hätten. Kritisch betrachtet werden die chinesischen Investitionen in der EU, wobei insbesondere die politische und wirtschaftliche Einflussnahme moniert wird. Unter den Ländern, die derartige Absichtserklärungen unterzeichnet haben, sind Italien, Griechenland, Ungarn, Polen und Kroatien. Es wäre ein fatales Zeichen, wenn es der chinesischen Führung gelänge, die Länder der EU zu entzweien und auf der Basis von bilateralen Verträgen die Abhängigkeit von Chinas Einflussnahme zu stärken. Vielmehr sollten die Volkswirtschaften Europas die Chancen für handelsschaffende Effekte im Export und Import sowie Synergien für Produktionsketten nutzen, um den EU-Binnenmarkt und die weltwirtschaftlichen Verflechtungen auszubauen.