Dr. Gerhard Schüsselbauer
“We would love again | Under glorious suns | With the freedom that comes with the truth”
(Billie Eilish, The End of the World, Coverversion)
Der 23. Oktober ist seit 1989 ein großer Staatsfeiertag in Ungarn und erinnert an die anti-kommunistische und bürgerlich-demokratische Revolution, in der der Freiheitskampf (szabadságharc) der aufständischen Ungarn gewaltsam niedergeschlagen wurde. Im kollektiven Gedächtnis geht es an diesem Tag um das Erkämpfen des Rechts gegenüber totalitärer staatlicher Willkür und Unterdrückung. Mit der historischen Wahrheit kommen unweigerlich die Freiheit und die Rechtsstaatlichkeit! Das war zumindest die Hauptintention der aufständischen Helden von 1956.
Doch was ist Wahrheit im gegenwärtigen politischen Diskurs? Natürlich geriet in diesem Jahr dieser nationale Gedenktag zum Wahlkampfauftakt. In wenigen Monaten wird in Ungarn die Landesversammlung (országgyűlés) gewählt. Und es werden wahrlich entscheidende Parlamentswahlen für die Entwicklung des Landes und vielleicht gar der EU werden. Ministerpräsident Viktor Orbán wurde nicht müde, die EU und Brüssel erneut zu geißeln und als Feindbild zu stilisieren, denn laut Orbán spreche die EU mit Ungarn und mit Polen wie mit Feinden. Wieder einmal sieht er in gleichsam neurotischer Form eine Verschwörung heraufziehen und dämonisiert diffuse Kräfte außerhalb des Landes. In Wirklichkeit haben die Parteifreunde Orbáns von der Regierungspartei Fidesz praktisch alle politischen und institutionellen Schaltstellen des Landes seit langem monopolisiert. Der ausländische Einfluss wurde immer weiter zurückgedrängt, die Central European University ist zwangsweise weitgehend bereits nach Wien abgewandert. Orbán hat das Land bislang unmissverständlich fest im Griff.
Nachdem Klára Dobrev, die Ehefrau des alles andere als populären Ex-Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány, und auch der durchaus sehr angesehene grün-liberale Oberbürgermeister von Budapest Gergely Karácsony bei den Vorwahlen der Ministerpräsidentenkandidatur der vereinigten Opposition im September und Oktober 2021 für die Parlamentswahlen 2022 zurückgezogen hatten, zauberten die Oppositionskräfte einen völlig neuen Gegenkandidaten für Viktor Orbán aus dem Hut. Péter Márki-Zay könnte in der Tat Orbán im nächsten Jahr sehr gefährlich werden und den bislang als unumstößlich geltenden Amtsinhaber vom Thron des Ministerpräsidenten stoßen. Denn Márki-Zay kann Orbán in der Tat ernsthaft herausfordern, zumal er als konservativer, katholischer und mehrfacher Familienvater wenig Angriffsflächen für die allseits bekannten Schmutzkampagnen der Regierungspartei Fidesz bietet. Die von Fidesz kontrollierten Medien können bislang dem Bürgermeister der südungarischen Kleinstadt Hódmezővásárhely nichts entgegensetzen. Márki-Zay lebt und verkörpert nach eigenen Aussagen genau die konservativen Werte, die Orbán nur gleichsam wie eine Monstranz vor sich her trägt. Er ist auf gesellschaftlichen Ausgleich bedacht und will die tiefen Gräben in der Gesellschaft überwinden. Vor allem bei jungen Menschen, die ausgesprochen frustriert und geradezu angewidert sind von Orbáns Machtpolitik, seinen Hetzkampagnen und diffamierendem Stil dürfte Márki-Zay großen Zuspruch erfahren. Sein klares Bekenntnis zur EU, zu europäischen Werten und der Rechtsstaatlichkeit dürften ihn zu einem interessanten Partner für integrationswillige Regierungen und EU-Institutionen machen. Der Isolationskurs des Putin-Freundes Orbán innerhalb der EU könnte in der Tat im Frühjahr 2022 enden, wenn die vereinigte Opposition es vermag, Viktor Orbán mit den eigenen Waffen zu schlagen und den Typus des Medianwählers anzusprechen, der teils konservative, teils liberal-sozialdemokratische Werte verinnerlicht. In Ungarn wird die Wahl nicht in der einzigen echten Großstadt Budapest gewonnen, sondern in den kleineren Städten und auf dem Land. Und das hat Péter Márki-Zay schon geschafft.