Dr. Gerhard Schüsselbauer
Die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU (GASP) steht im Hinblick auf die Konfrontation mit Russland vor ihrer möglicherweise größten Herausforderung. Es fällt sehr schwer zu glauben, dass die Regierung der Russischen Föderation nicht aggressive Ziele im Ukrainekonflikt verfolgt, sondern lediglich auf der Zementierung eines Stauts quo bzw. eines „frozen conflict“ beharrt. Die massive militärische Mobilmachung an der Grenze zur Ukraine sowie die permanente Einflussnahme durch hybride Konfliktmethoden legen den unmittelbaren Schluss nahe, dass es um viel mehr geht, als lediglich darum, auf internationalem geopolitischem Parkett als gleichberechtigter Partner mit der NATO wahrgenommen zu werden. Das Bedrohungspotenzial muss als exorbitant hoch eingestuft werden. Alles andere wäre naiv. Man muss sich nur die Stimmung in den Bevölkerungen der kleinen baltischen Staaten oder auch in Polen vor Augen führen.
Nimmt man für Russland eine realitätsbezogene Einschätzung der wirtschaftlichen Stärke und Entwicklungen im Vergleich zum militärischen Drohpotenzial einer Atomsupermacht vor, dann fallen die gravierenden Defizite in vielen relevanten ökonomischen Indikatoren auf. Geradezu gebetsmühlenartig wird russischerseits immer wieder die flächenmäßige Größe des Landes betont, um damit die weltpolitische Bedeutung Russlands zu unterstreichen. Vergleicht allerdings die volkswirtschaftliche Wertschöpfung des Landes anhand des BIP, dann weisen die vier größten Bundesländer Nordrhein-Westfalen, Bayern, Baden-Württemberg sowie Niedersachsen zusammengenommen ein höheres Niveau des BIP auf als die russische Föderation mit ca. 146 Mio. Einwohner*innen. Russland lässt sich von der wirtschaftlichen Bedeutung keineswegs mit China vergleichen. Aus chinesischer Sicht ist Russland sogar nur ein mittelgroßes Anhängsel im Rahmen des gigantischen Projektes „New Silk Road“, das zu einer tektonischen Verschiebung der Gewichte und des Einflusses auf dem eurasischen Kontinent führt.
Durch die seit Jahren geltenden Sanktionen seitens der EU und der USA, die viele Investitions- und Konsumgüter betreffen, ist die russische Wirtschaft geschwächt und die Kapitalmobilität ist stark eingeschränkt, was ein veritables Investitionshindernis darstellt. Darüber hinaus weist Russland enorme strukturelle Defizite im Justizsystem, in der allgegenwärtigen Korruption sowie bei der Unsicherheit hinsichtlich der Eigentumsrechte auf. Vor Jahren schon mahnten sowohl Putin als auch Ex-Präsident Medwedew die einseitige Abhängigkeit vom primären Sektor der Rohstoffindustrie auf. Allenfalls die Rüstungs-, Waffen- sowie Raumfahrtindustrie können als international wettbewerbsfähig betrachtet werden. In vielen Bereichen der Industriegüter- sowie Konsumgüterproduktion ist der erhoffte technologische Schub bislang ausgeblieben. Die Konzentration auf fossile Energieträger, deren Verarbeitung und Export lähmt die Entwicklung von Zukunftstechnologien und bindet viele qualifizierte Arbeitskräfte. Einen Aufschwung erfährt seit Inkrafttreten der Sanktionen neben dem IT-Sektor der Agrarsektor, zumal die Möglichkeiten des riesigen Flächenlandes geradezu nach einer viel effizienteren Nutzung rufen. Russland ist mittlerweile zu einem der größten Weizenexporteure weltweit aufgestiegen und auch die Produktion von Rohmilch hat sprunghaft zugenommen.
Gewaltige Probleme offenbart nicht nur die Covid-19-Pandemie mit hohen Sterbezahlen in Russland. Der allgemein schlechte Gesundheitszustand der Bevölkerung bei einer vor allem bei Männern viel niedrigeren Lebenserwartung als etwa in Mittel- und Westeuropa sowie der Facharbeitskräftemangel verstärken die gewaltigen Herausforderungen. In den letzten Jahren ist die Zahl der erwerbsfähigen russischen Bevölkerung um vier Millionen zurückgegangen. Dies stellt ein gewaltiges Wachstumshindernis dar, zumal das Wachstum einer Volkswirtschaft hauptsächlich vom technologischen, organisatorischen und sozialen Fortschritt einer kreativen freiheitlichen Gesellschaft sowie dem Wachstum des Erwerbspersonenpotenzials abhängt. Hinsichtlich dieser Aspekte muss die Entwicklung Russlands als äußerst kritisch eingeschätzt werden.
Das militärische Abenteuer an der Grenze zur Ukraine unterstreicht, dass Putin von der stagnierenden ökonomischen Entwicklung in seinem von KGB-Oligarchen und einer unseligen Verquickung von Staat und Wirtschaft beherrschten Land ablenken muss und auf militärischer Bühne zeigen will, wer die einzige dominierende Macht in Osteuropa ist. Auch russische Wirtschaftsexperten prangern die wirtschafts- und sozialpolitischen Versäumnisse der letzten Jahre an und beobachten eine Tendenz zum wirtschaftlichen und sozialen Abstieg breiter Bevölkerungsgruppen. Wieder einmal ist der Entwicklungspfad Russlands höchst unbestimmt, was einerseits Investitionen und technologische Neuerungen massiv erschwert und andererseits die exorbitante Einkommens- und Vermögensungleichheit in der russischen Gesellschaft vergrößert, da die breite Masse der Menschen von einem fehlenden Aufschwung betroffen ist und Einbußen beim Realeinkommen hinnehmen muss.