Dr. Gerhard Schüsselbauer
„Eine Frau holt ihren Mann am Werkstor im Ruhrgebiet ab und bringt einen aus Weiden geflochtenen und daher wertbeständigen Wäschekorb mit. Der Mann nimmt den Korb und holt seinen Wochenlohn in Papiergeld ab. Er stellt den Korb ab. Er und seine Frau drehen sich um und sprechen eine Weile mit Bekannten. Als sie sich wieder umdrehen… ist der Wäschekorb verschwunden, und das Papiergeld liegt auf der Straße.“ (Anekdote aus der Zeit der großen Hyperinflation in der Weimarer Republik, Herbst 1923)
Ein Gespenst ist zurück, das wir seit 30 Jahren tot gewähnt hatten. Die Entwicklung der Inflationsrate in Deutschland sowie im gesamten EU-Binnenmarkt nimmt besorgniserregende Ausmaße an. Die Veränderung des Konsumentenpreisindexes (KPI) im Vergleich zum Vorjahr stieg Ende des Jahres 2021 und auch im Januar 2022 auf ca. 5 Prozent. Das Ziel der Europäischen Zentralbank besteht darin, das Niveau der Preisniveauverschiebungen durch wirksame Instrumente der Geldpolitik auf höchstens 2 Prozent jährlich zu begrenzen. Dieses Ziel scheint aus dem Ruder zu laufen, und daran trägt die EZB mit ihren geldpolitischen Entscheidungen Mitschuld. Auch in europäischen Nicht-Euro-Ländern wie in Polen, Tschechien oder Ungarn beobachten wir eine inflatorische Spirale, die dringend unter Kontrolle gebracht werden muss. Polen hat mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems und der sozialistischen Wirtschaft Ende 1989 und 1990 einschneidende Erfahrungen mit inflatorischen Entwicklungen gemacht und musste mittels einer Schocktherapie die makroökonomische Stabilität herstellen. Der Preis dafür war auch eine drastisch gestiegene Arbeitslosigkeit im Zuge der ökonomischen Transformation. Heute senkt die polnische Regierung die Mehrwertsteuer, um Benzin und Gas zu verbilligen.
Was sind die Gründe für die Preissteigerungsraten, die wir gegenwärtig in Deutschland und in der EU beobachten und die bei vielen Fachleuten die Alarmglocken schrillen lassen?
- Ein wichtiger Teil der Inflationsentwicklung des Konsumentenpreisindexes ist auf die weltweit drastisch gestiegenen Preise für importierte Rohstoffe wie Rohöl und Gas zurückzuführen. In den Jahren 2020 und 2021 waren diese nach dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie und der verringerten weltwirtschaftlichen Nachfrage stark zurückgegangen und verharrten längere Zeit auf einem künstlich niedrigen Niveau. In den letzten Monaten sind diese Energiepreise so drastisch gestiegen, dass die Konsumenten in Deutschland oder anderen vom Import von Primärenergieträgern abhängigen Länder dies merklich spüren. Über den internationalen Handel und den internationalen Preiszusammenhang kommt es somit zu einer importierten Kosteninflation. Die inländischen Produzenten müssen diese Preissteigerungen dann an den Endverbraucher weitergeben, um konkurrenzfähig zu bleiben. Da Rohöl üblicherweise in US-Dollar abgerechnet wird, steigt somit auch der Druck auf den Wechselkurs, sodass der Euro kurzzeitig gegenüber dem US-Dollar abwertete.
- Die Politik der Europäischen Zentralbank ist nach wie vor auf eine expansive Nullzinspolitik und damit eine Ausweitung der Geldmenge bei negativen Realzinsen ausgerichtet. Damit schafft die EZB aufgrund des Erbes der Finanz- und Schuldenkrise vor etlichen Jahren ein Umfeld für eine beinahe unbegrenzte Liquiditätsversorgung. Der Grundsatz von Mario Draghi „Whatever it takes!“ wurde auch von seiner Nachfolgerin Christine Lagarde als EZB-Präsidentin nie ernsthaft in Zweifel gezogen. Damit gleicht die expansive Geldpolitik der EZB dem unkontrollierten Alkohol- und Drogenkonsum auf einer exzessiven Party, weil immer mehr Zentralbankgeld in die Volkswirtschaft geleitet wird. Dies führt einerseits zu einer Vermögenspreisinflation bei Immobilien, Grundstücken und Vermögenswerten wie Aktien und andererseits auch zu Veränderungen der Preisstruktur bei den Konsumentenpreisen. Noch hat die EZB eine Zinswende und damit ein Ende der Party nicht eingeläutet. Obwohl alle Marktakteure wissen, dass die geldpolitische „Drogenparty“ nicht ewig weitergehen kann, verfolgt die EZB keine konsequente Exitstrategie, weil sie um die wirtschaftliche Erholung von Krisenländern des Euroraumes fürchtet. Dazu zählen neben Griechenland, Spanien und Portugal auch Frankreich und Italien. So befindet sich die EZB in einem veritablen geld- und vor allem wirtschafts- und sozialpolitischen Dilemma, denn die Inflation trifft stets die sozial schwächeren Gruppierungen in einer Gesellschaft viel stärker als Wohlhabende, die der Inflation durch reale Vermögensanhäufung oder -umschichtung ausweichen können.
- Da die Inflationsentwicklung vor allem die breite Masse der Bevölkerung trifft, von denen ein Großteil ein kontraktbedingtes Einkommen (Lohn, Gehalt, Transferleistungen) bezieht, besteht eine weitere große Gefahr darin, dass sich eine Lohn-Preis-Spirale in Gang setzt. Darüber hinaus führen Lieferengpässe bei vielen Investitions- und Konsumgütern dazu, dass deren Preise ansteigen. Dies ist kein kurzfristiger Effekt. Der Anstieg der Lebenshaltungskosten wird den Druck auf Lohnverhandlungen erhöhen, damit Beschäftigte und Konsumenten nicht reale Einkommensverluste bzw. Kaufkrafteinbußen hinnehmen müssen. Unternehmen müssen die gestiegenen Kosten wegen der Nominallohnerhöhungen an die Konsumenten weitergeben. Eine ungebremste Lohn-Preis-Spirale wäre eine echte Gefahr für alle Volkswirtschaften in der EU.
Somit nehmen die Menschen heute ein Phänomen wahr, das wir als längst gelöstes makroökonomisches Problem angesehen haben. Langfristig muss die Geld- und Wirtschaftspolitik wieder zu positiven Realzinsen führen, um die Anreizmechanismen in den Wirtschaftsabläufen zurechtzurücken. Rationales Verhalten der Wirtschaftsakteure ist nur bei richtigen Preis- und Zinssignalen möglich.