German Angst?

Dr. Zbigniew Wilkiewicz

Ja, nicht nur die den Deutschen gerne unterstellte Angst geht in ganz Europa um. Denn auch noch in der vierten Kriegswoche wehrt sich die Ukraine überaus erfolgreich und fügt den russischen Aggressoren erhebliche Verluste an Soldaten und Material zu. Zudem sterben immer mehr ranghohe russische Offiziere und die Moral der Truppen ist schlecht. Neben den berüchtigten Söldnern der Wagner-Gruppe, den ebenso berüchtigten tschetschenischen „Kadirowcy“ und nun auch syrischen Söldnern, die für 200 Dollar in der Woche ihren Kopf für die erschöpften russischen Krieger hinhalten sollen, bittet Putin mittlerweile auch um chinesische Hilfe und drängt wohl auch Belarus stärker, in den Krieg einzugreifen.

Militärexperten sprechen zurecht von einer absoluten Blamage der russischen Armeeführung, die auch nach fast vier Wochen keines ihrer strategischen Ziele erreichen konnte. Deshalb nun auch der vermehrte Bomben- und Raketenhagel auf ukrainische Städte wie Kiew, Mariupol, die Vernichtung ziviler Ziele wie Krankenhäuser, Kindergärten und Schulen, die Ermordung von Frauen und Kindern und Alten.

Dies spielt sich alles vor unseren Augen ab und viele von uns schauen immer noch fassungslos zu und sind ratlos. Denn da droht doch der Kreml-Diktator mit Atomschlägen, bedroht skandinavische Staaten – wie Finnland und Schweden – direkt und setzt nun auch seine „Wunderwaffe“, die Überschallrakete „KIndschal“ ein. Es riecht nach einem Konflikt mit der NATO und in dessen Folge mit der Möglichkeit eines 3. Weltkriegs.

Dem Kriegsverbrecher Putin sollte man alles zutrauen. Und deshalb gibt es auch in Europa, vor allem aber in dem von russischem Erdgas so abhängigen Deutschland, „friedensbewegte“ und „vernünftige“ Stimmen, etwa den Philosophen David Richard Precht, der den Ukrainern zwar das Recht auf Selbstverteidigung zugesteht, der ukrainischen Führung aber rät, sich angesichts der russischen Übermacht zu ergeben.

Was aber würde dies für die Ukraine, Europa, ja für die ganze Welt bedeuten. Um es unumwunden zu sagen: dass sich ein krimineller Hasardeur und Völkermörder erneut gegen den zivilisierten Teil der Weltgemeinschaft durchsetzt und uns weiterhin erpressen kann. Denn an seinem beträchtlichen atomaren Waffenarsenal ändert sich nichts und Putin droht weiter unentwegt und unverhohlen mit einer Eskalation des Konflikts.

Verständlich, dass man da ängstlich werden kann, denn im worst case haben wir alle keine Zukunft mehr. Putin könnte uns alle in die Vorvergangenheit zurückbomben. Nur, er kann dies nicht nur aktuell auf den Weg bringen, sondern durchaus auch in naher oder ferner Zukunft, sollte er an der Macht bleiben und seine weiteren strategischen Ziele nicht mit „konventionellen“ (also den geächteten Streubomben, biologischen Waffen oder Überschallraketen) durchsetzen können. Die atomare Bedrohung durch Russland und ein Regime, das bewusst mit ihr spielt, bleibt uns erhalten. Auch zeichnet sich ab, dass der Imperialist Putin, ähnlich wie einst Hitler, versuchen wird, seine strategischen geopolitischen Ziele durchzusetzen, möglicherweise scheibchenweise, wie er es seit mittlerweile zwanzig Jahren tut.

Sollten Mykolajiw und Odessa fallen, sieht sich Moldawien nicht nur durch das waffenstarrende Transnistrien bedroht, sondern auch durch ein waffenstarrendes russisch kontrolliertes Hinterland. Ob Putin einen direkten Angriff auf die NATO-Staaten im Baltikum wagt, ist zu bezweifeln. Denn inzwischen hat die NATO glaubwürdig klar gemacht, dass dies eine nicht überschreitbare rote Linie darstellen und den Bündnisfall auslösen würde.

Was können wir also in Europa, in Deutschland tun? Norbert Röttgen, der sich nach der Krimbesetzung als einer der wenigen exponierten deutschen Politiker gegen Northstream II aussprach, rät dazu, alles zu tun, was wir können und fordert ein sofortiges Energie-Embargo gegen Russland. Robert Habeck wirft er vor, „Katastrophenszenarien“ zu verbreiten. Habeck gibt dagegen zu bedenken, dass Sanktionen mittelfristig nur dann greifen, wenn man sie auch durchhalten kann. (Interview mit Norbert Röttgen: Wir sollten alles tun, was wir können. In: taz, 18.03.22, S.6) Diesem vernünftigen Argument steht allerdings der Faktor Zeit entgegen, denn die Ukraine ist dabei zu verbluten und Putins Truppen setzen ihre Vernichtung ziviler Ziele unbeirrt fort.

Wie lange werden wir uns das aber weiter anschauen können? Das eingekesselte Mariupol wird sich nicht ergeben, sondern bis zur letzten Frau, bis zum letzten Mann kämpfen. Odessa ist zur Festung ausgebaut worden, Zivilisten haben sich bewaffnet und sind entschlossen, sich mit allem, was sie haben, gegen die Invasoren zu wehren. Das unter Dauerbeschuss stehende Charkiv wehrt sich noch immer entschlossen und gerade gestern (20. März 2022) wurde vermeldet, dass die ausgebluteten russischen Einheiten im Nordwesten der Hauptstadt Kiew durch eine ukrainische Gegenoffensive zurückgedrängt wurden.

Putin steckt an allen Fronten fest, droht aber weiter. Meines Erachtens gibt es angesichts dieses Szenarios für den Westen nur die Option, neben Verhandlungsbereitschaft vor allem Stärke zu zeigen und die Ukraine nicht nur moralisch, politisch, humanitär, sondern auch militärisch massiv zu unterstützen. Selbst die von Selenskij geforderte Lieferung von Kampfflugzeugen oder die Schließung des ukrainischen Himmels sollten nicht mehr ausgeschlossen werden. Hier bin ich ganz bei dem Ex-General und ehemaligen Sicherheitsberater H. R. Mc Master, der in einem im „Spiegel“ vom 19.03.22 abgedruckten Interview unter dem Titel „Putin ist ein unfähiger Stratege“ unter anderem ausführte: „Das Gerede von einem dritten Weltkrieg ist nicht hilfreich. Es dient nur Putins Einschüchterungsversuchen und seinem Bemühen, den Krieg weiter eskalieren zu lassen, ohne dass es für Russland Konsequenzen hätte. Wir müssen Putin klarmachen, dass nukleares Säbelrasseln die Nato und den Westen nicht beeindrucken wird.“

Die Diskussion solcher Maßnahmen ist zwar in der Tat angsteinflößend, aber fruchtbar, denn sie wird auch in Moskau wahrgenommen. Mit anderen Worten, man darf dem Kriegsverbrecher Putin und seiner Entourage nicht weiter erlauben, uns zu erpressen. Man sollte das zugegebenermaßen schwer kalkulierbare Risiko eingehen und damit beginnen, Gegenforderungen zu stellen. Denn wie auch immer dieser Konflikt ausgehen sollte, danach wird sich die Frage stellen, wer für die materiellen, humanen und mentalen Schäden dieses Putinschen Vernichtungskriegs gegen die Ukraine wird aufkommen müssen.

Und auch für die enormen Folgekosten, die Europa und der zivilisierte Westen angesichts der Aufnahme und Integration von Millionen ukrainischer Geflüchteter zu tragen hat. Von den Kosten für die Russische Föderation, die die Effekte der westlichen Sanktionen und die Abkehr von den russischen Rohstofflieferungen schon recht bald zu spüren bekommt, ganz zu schweigen. Sicherlich wird ein Regime unter Führung Putins und seiner Clique sich dafür nicht verantwortlich fühlen.

Wir aber haben, trotz unserer rational-irrationalen German Angst eine Bringschuld gegenüber der sich tapfer wehrenden und unsere vielbeschworenen europäischen Werte entschlossen verteidigenden Ukraine. Oder mit den Worten von Marieluise Beck: „Es ist Zeit für eine Anzahlung an die, die uns die Last des Krieges abnehmen. Gebt ihnen, was sie dafür brauchen. Es geht auch um unsere Sicherheit.“ (Marieluise Beck: Nie wieder Krieg? In: taz, 19./20. 03. 22, S.15)