Dr. Zbigniew Wilkiewicz
Mauern, die man in Jahrzehnten hochgezogen und befestigt hat, sind nur sehr schwer abzutragen, selbst wenn eine Epochenwende verkündet wird, wie dies jüngst im deutschen Bundestag geschah. Der ukrainische Präsident Wolodymir Selenskyj hatte in seiner dramatischen Ansprache im Bundestag immer wieder auf das Bild der Mauer rekurriert und Bundeskanzler Olaf Scholz dazu aufgefordert, die die westliche Welt von der Ukraine trennende Mauer niederzureißen.
Die Abkehr von einer Politik, die das Putinsche Russland durch eine fatale Energieabhängigkeit objektiv betrachtet gestärkt hat und trotz des aktuellen Kriegs weiter stärkt und die von der immer wieder wiederholten These flankiert wurde, dass es europäische Sicherheit ohne die Russische Föderation nicht geben könne, fällt vielen deutschen Politikern, die bis zum Ausbruch des russischen Überfalls auf die Ukraine noch immer auf eine partnerschaftliche Beziehung mit Putin gesetzt hatten, offenbar schwer.
Sieht man von dem Gazprom-Lobbyisten und Ex-Kanzler Gerhard Schröder einmal ab, der weiterhin eine geradezu mafiöse Männerfreundschaft zu Wladimir Putin zu pflegen scheint, so gilt das auch für einige Vertreter der SPD-Linken, die sich noch kurz vor dem Überfall auf die Ukraine, aber auch danach entsprechend geäußert haben. Ich denke hier an Aussagen von Kevin Kühnert, aber auch an die des Fraktionsvorsitzenden der SPD Rolf Mützenich, dem es immer noch schwer fällt angesichts der notwendigen Ausgaben für die Ausrüstung der Bundeswehr von seinen liebgewonnenen entspannungspolitischen Postulaten abzurücken.
Letztendlich tragen aber Angela Merkel und auch Olaf Scholz durch die Befürwortung und Verharmlosung des Projekts Nord Stream 2 die Hauptverantwortung dafür, dass die EU und besonders Deutschland in die energiepolitische Falle Putins geraten ist. Es waren die Mauern in den Köpfen führender deutscher Politiker, die es letztendlich ermöglichten, dass wir gerade den russischen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine durch den Einkauf von Erdgas, Erdöl und Steinkohle tagtäglich mit mehreren Einhundertmillionen Euro mitfinanzieren. Dadurch werden die eigenen europäischen Sanktionen unterlaufen und ein verbrechereischer Krieg verlängert.
Aus Sicht der Leiterin des renommierten Posener Westinstituts, Justyna Schulz, stellt sich dieser Sachverhalt wie folgt dar: „Allen Unkenrufen zum Trotz hat sich Deutschland für eine energiepolitische Strategie entschieden, die Putins Russland zum Angriff auf die Ukraine verholfen hat. Nun weigert sich Deutschland auch, einen Teil der Kosten dieser Fehlentscheidung zu tragen, indem es ein gemeinsames Embargo auf die Gas- und Öllieferungen aus Russland ablehnt.“ Ferner erläutert die Autorin, dass die im deutschen politischen Diskurs verwendeten Verweise auf die Naivität der Deutschen und der Westeuropäer, auf die Verantwortung des Westens insgesamt und auf die Unvorhersehbarkeit der Ereignisse, mehr verschleiern als erklären. Schulz fordert, dass die bisherige deutsche Energiepolitik, die Europa zu Krieg und Wohlstandsvernichtung nicht nur in der Ukraine geführt habe, revidiert werden müsse. Dazu benötige man disruptive Konzepte, den Bruch mit Denkmustern und die Abkehr von Experten, die zum angeblichen Wohle des deutschen Volkes für Nord Stream 2 warben. (Justyna Schulz: Folgt der Spur des Geldes! Die bisherige deutsche Politik in Ostmitteleuropa hat zu Krieg und Wohlstandsverlust geführt. Es braucht jetzt eine neue, disruptive Strategie. In: FAZ, 22.03.22, S.9)
Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch der Professor für Straf- und Völkerrecht Claus Kreß in einem Beitrag, in dem er sich mit der globalen Geltung universeller Werte auseinandersetzt: „Im Hinblick auf die deutsche Haltung gibt es indessen nichts zu beschönigen. Deutschland hat seine Abhängigkeit von Energieimporten aus Russland auch nach dessen völkerrechtswidriger Annexion der Krim 2014 und der mehr oder weniger verdeckten völkerrechtswidrigen Intervention in der Ostukraine aufrechterhalten. Nun traut Deutschlands Führung seiner Bevölkerung die Kraftanstrengung nicht zu, die mit einem sofortigen Ende der Gaslieferungen aus Russland verbunden wäre. So begrenzt Deutschland seinen Einsatz für die Ukraine und für die Resilienz des Gewaltverbots auf empfindliche Weise.“ (Claus Kreß: Empörung eines verletzten Völkerrechtsbewusstseins. In. FAZ, 24.03.22, S.7)
Ganz aktuell versucht Putin Europa zu zwingen, seine Verbindlichkeiten für den Einkauf von Erdgas in Rubeln zu realisieren, um so den Niedergang der russischen Währung zu stoppen. Ein fataler Teufelskreis, aus dem man im Idealfall nur hinauskommt, wenn man auf den Kauf russischer Energie verzichtet. Oder wenn der russische Diktator von sich aus den Gashahn zudreht. Dann hätten wir an der Energiefront jenen Zermürbungskrieg, den Russland momentan in der Ukraine führt, indem es ukrainische Städte in Schutt und Asche legt.
Es muss in der EU also wohl dosiert, abgestimmt und abgestuft gehandelt werden, um sich selbst nicht mehr zu schaden als der Russischen Föderation. So hat beispielsweise Polen beschlossen, sich bis Dezember dieses Jahres endgültig aus der russischen Energieabhängigkeit zu befreien. Aber auch hier spielt der Faktor Zeit eine entscheidende Rolle, denn wer kann schon voraussehen, wie es bis Dezember 2022 um die Ukraine, um Russland und um uns alle bestellt sein wird?
Deshalb sollten die Sanktionen gegen die Russische Föderation beschleunigt verschärft werden, aber auch nachhaltig, auf mittlere bzw. längere Frist ausgelegt sein. Wie man mit der Rubel-Nötigung Putins umgehen sollte, wird m.E. plausibel im Kommentar von Gerald Braunberger dargelegt: „Der Westen sollte dieses Manöver, das man wahlweise als cleveren Schachzug wie als Verzweiflungstat betrachten mag, zurückweisen und als zusätzliches Argument betrachten, um beim Thema Energiesanktionen selbst die Initiative zu ergreifen – auch wenn Putin darauf hoffen wird, dass die Bedenkenträger in Berlin davor weiterhin zurückschrecken. (Gerald Braunberger: Gas gegen Rubel: In FAZ, 25.03.22, S.19) Ähnlich auch die Stellungnahme der CDU, die ein klares Nein fordert und betont, dass sich ein freies Europa nicht erpressen lassen dürfe. (Zweifel an einer sicheren Gasversorgung. In: FAZ, 25.03.22, S.19)
Sinnvoll scheint mir in diesem Kontext auch der am 25.03.22 im Deutschlandfunk formulierte Vorschlag von Manfred Weber zu sein, endgültig auf die Einfuhr von russischem Erdöl und russischer Steinkohle zu verzichten. Denn diese Lieferungen sind durch Käufe auf dem Weltmarkt in der Tat leichter zu kompensieren.
Angesichts der Drohungen Putins, in der Ukraine auch ABC-Waffen einsetzen zu können und der in russischen Medien öffentlich geführten Diskussion über einen möglichen Angriff auf den NATO-Staat Polen, auf die auf dem letzten NATO-Sondergipfel (24.03.22) mit einer massiven Verstärkung der NATO-Ostflanke und entsprechenden präventiven Hilfsmaßnahmen für die Ukraine reagiert wurde, wird Europa wohl schon bald dem Vorbild der USA folgen und auf den Kauf von russischem Erdöl und russischer Steinkohle verzichten müssen, um den Druck auf Putin zu erhöhen.
Der jüngste Vorstoß Walter Ischingers (26.03.22) – nach langer Abwägung der Chancen und Risiken, der Vor- und Nachteile für Deutschland und die deutsche Wirtschaft – den er zusammen mit anderen deutschen Sicherheits- und Energieexperten formuliert hat, und in dem der Verzicht auf die weitere Lieferung russischen Erdgases gefordert wird, erscheint mir zielführend und sollte alsbald von der deutschen Regierung umgesetzt werden. Angesichts der momentanen militärischen Schwäche Russlands, irrationaler Drohgebärden und dem Rückzug einiger prominenter Putin-Unterstützer aus Russland ist dies ein gut gewählter, wenn auch längst überfälliger Moment, um auch diese Restmauer einzureißen.
Die Mauern, die man abtragen sollte, existieren aber nicht nur in den Köpfen deutscher Politiker/innen, sondern werden auch in wissenschaftlichen und publizistischen Kreisen lange hochgezogen und gepflegt. Gepaart sind diese Vorstellungen mit einem Blick auf Osteuropa und die Welt, der der sog. „realistischen Schule“ und dem noch immer durch den Kalten Krieg geprägten geopolitischen Großmachtdenken in Einflusssphären geschuldet ist. Dabei hatte man sich nach 1989 darauf verständigt, dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker aufgrund des Wegfalls des für den Kalten Krieg charakteristischen Blockdenkens eine Selbstverständlichkeit sein müsste. In zahlreichen Vertragswerken, in die selbstverständlich auch die Russische Föderation eingebunden war, wurde die globale Gültigkeit des Völkerrechts und der Menschenrechte garantiert. Aber offenbar wurden diese Regeln einer nach 1989 entstehenden neuen Weltordnung von nicht wenigen deutschen Realpolitikern/innen, ihren Beratern/innen und Russlandexperten/innen nicht besonders ernst genommen.
Angesichts des grausamen Vernichtungskriegs in der Ukraine und Putins Versuch, unsere westliche Wertewelt in Staub zu verwandeln, sollten wir auf diese existenzielle Herausforderung nicht nur diplomatisch, wirtschaftlich und militärisch sehr entschieden reagieren, sondern auch in Lehre und Wissenschaft. Ich denke hier nicht nur an jene mehr oder minder ausgewiesenen Osteuropaexperten/innen und Osteuropahistoriker/innen, die sich im Hinblick auf die Russische Föderation und Putin gründlich getäuscht haben, aber lange Zeit einen erheblichen Einfluss auf das Denken und Fühlen einer Großzahl der Deutschen ausübten, sondern auch an die politische Bildung in Deutschland, die sich durch die Neubestimmung ihrer Aufgaben nach 1989 immer weniger mit den Entwicklungen in Ostmitteleuropa, in der Russischen Föderation und in den GUS-Staaten beschäftigt hat.
Den Ost-West-Instituten, in deren Kreis das Gesamteuropäische Studienwerk in Vlotho als Zentralstelle eine hervorgehobene Position einnimmt, wächst diesbezüglich eine weitere wichtige Aufgabe zu, bei der die zukünftige Beschäftigung mit den Entwicklungen in der Ukraine sowie deren Bedeutung für ganz Europa eine prominente Rolle einnehmen sollte.