Zbigniew Wilkiewicz
Der russische Vernichtungskrieg in der Ukraine währt schon über 100 Tage. Putin hat bisher keines seiner strategischen Ziele erreicht. Selbst im Donbass, der seit über einem Monat unter Dauerbeschuss steht, kommen die russischen Einheiten nur langsam voran. Im Süden, im Gebiet um Cherson, sind sie sogar wieder zurückgedrängt worden. Gleichwohl lässt Putin nicht von seinen aberwitzigen Kriegszielen ab. Ins Visier genommen werden nicht nur die unter permanenten schweren Artillerieattacken stehenden Bezirke Donezk und Lugansk, angestrebt wird nicht nur die vollkommene Beherrschung der Schwarzmeerküste und die Restitution des einst von Katharina der Großen eroberten Neurussland, sondern die Wiederherstellung der Einflusssphäre des Russischen Imperiums, wie sie nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs durch die Siegermächte festgelegt wurde.
Was bedeutet das im Klartext? Die Niederwerfung der Ukraine ist angesichts dieser Zielsetzung nur ein erster vorbereitender Schritt. Betrieben wird die Zurückholung weiterer „russländischer“ Gebiete, zu denen aus Putinscher Sicht auch die zur einstigen Sowjetunion gehörenden baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen sowie die Republik Moldau gehören. Darüber hinaus aber auch die Herstellung der nach 1945 etablierten sowjetischen Einflusssphäre, die in Europa bekanntlich bis an die deutsch-deutsche Grenze reichte.
Für diejenigen, die sich mit dem russischen und sowjetischen Imperialismus und der russländischen Reichsideologie seit Iwan III dem Großen (1462-1525), als die sog. Sammlung „russischer Erde“ einsetzte, beschäftigen und die entsprechenden Desiderate und Forderungen des seit über 20 Jahren herrschenden Kreml-Chefs wahr- und ernstgenommen haben, sind diese das gültige Völkerrecht mit Füßen tretenden, dreist vorgetragenen Gebietsansprüche keine Überraschung, zumal sie den niemals aufgegebenen imperialen und kolonialen Großmachtvorstellungen russischer Führungseliten entsprechen.
Folglich wird Putin unter Anspielung auf Adolf Hitler in der Ukraine und in Polen in der Alltagssprache schon seit langem und recht abfällig „Putler“ genannt. Allerdings haben selbst die profiliertesten Russlandexperten, ob nun in Polen, in der Ukraine, in den USA oder in Deutschland wohl kaum vermutet, dass Putin seinen „Traum vom Raum“ und von der Wiederherstellung des russischen Imperiums auch noch im 21. Jahrhundert mittels eines großangelegten Krieges gegen die Ukraine würde realisieren wollen.
Putin droht nicht nur mit der Vernichtung der gesamten Ukraine, sondern er fordert nicht weniger als die Zurücknahme der NATO-Osterweiterung und die „Neutralisierung“ ganz Ostmitteleuropas. Trotz erheblicher militärischer Rückschläge und enormer Verluste an Menschen und Material, nehmen die Drohgebärden russischer Propagandalautsprecher und ihres Führers, der sich jüngst mit Peter dem Großen verglich, keineswegs ab.
Sie zielen zuletzt besonders gegen die NATO-Staaten Litauen und Polen, deren Existenzrecht in Frage gestellt wird. In dieser Situation reist der deutsche Bundeskanzler nach Litauen und sichert dem bedrohten Land im Rahmen der NATO-Partnerschaft den Ausbau militärischen Schutzes zu. Dabei vermeidet er es aber immer noch, eindeutig zu äußern, dass ein Sieg der Ukraine über Russland das erstrebenswerte Kriegsziel des Westens sein sollte. Ob es sich dabei um Zurückhaltung handelt, um es Putin zu ermöglichen, einen gesichtswahrenden Ausweg aus dem Krieg zu finden, muss offenbleiben, ist aber sehr wahrscheinlich.
Ähnlich rücksichtsvoll verhält sich der französische Präsident Emmanuel Macron, der zwar bereit ist, 18 Einheiten des sehr effektiven Artilleriesystems CAESAR (also ausgesprochen schwere Waffen), in die Ukraine zu liefern, aber sich gleichzeitig bemüht, in die von ihm in gaullistischer Tradition beanspruchte Rolle des ehrlichen Maklers zu schlüpfen, um einen Waffenstillstand zwischen der Ukraine und Russland zu vermitteln. Nach eigener Aussage hat er dabei bereits mehr als 100 Stunden mit dem Kriegsherrn Putin telefoniert, ohne allerdings Substanzielles erreicht zu haben. Dabei hat Macron wiederholt geäußert, dass man Putin nicht demütigen dürfe.
Diese Haltung wird besonders in Polen hart kritisiert. Die polnische Regierung, aber auch die polnische Gesellschaft, haben im Hinblick auf den Krieg in der Ukraine schon sehr früh eine klare Position bezogen. Neben der Lieferung schweren militärischen Geräts, bei dem nicht nur 240 T-72 Panzer sowjetischer Bauart der Ukraine zur Verfügung gestellt wurden, sondern jüngst auch moderne, sehr effektive Haubitzen eigener Bauart, ist Polen zum Transitland für die Versorgung der notleidenden ukrainischen Bevölkerung und der schwer in Bedrängnis geratenen ukrainischen Einheiten im Donbass geworden.
Darüber hinaus beherbergt das Land seit mehr als drei Monaten mit über drei Millionen Menschen die meisten ukrainischen Geflüchteten. Schließlich sind es der polnische Präsident Andrzej Duda und der Ministerpräsident Mateusz Morawiecki, die sich bei jeder bietenden Gelegenheit in die diplomatische Offensive begeben und schärfere Sanktionen gegen Russland, eine massivere militärische Unterstützung für die Ukraine sowie eine klare EU-Beitrittsperspektive für das Land einfordern.
Im Unterschied zu Olaf Scholz oder Emmanuel Macron unterstreichen sie in ihren öffentlichen Erklärungen entschieden, dass die Ukraine in diesem Krieg siegen müsse. Und erst kürzlich hat Duda in einem Interview in der Bildzeitung im Hinblick auf die von Olaf Scholz betriebene Telefondiplomatie kritisiert, dass Putin dadurch aufgewertet werde, um dann noch deutlicher zu werden: „Hat jemand so mit Adolf Hitler während des Zweiten Weltkriegs gesprochen? Hat jemand gesagt, dass Adolf Hitler sein Gesicht wahren muss? (Gerhard Gnauck: Scharfe Kritik aus Polen. Duda rügt Scholz wegen seinen Telefonaten mit Polen. In: FAZ, 10.06.2022, S.2)
Dass die Führung Polens die diplomatischen Bemühungen Frankreichs und Deutschlands, die langen, aber ergebnislosen Telefonate von Bundeskanzler Scholz und Präsident Macron mit dem Kriegsverbrecher Putin harsch kritisiert, wobei Putin direkt und ohne Umschweife mit Hitler verglichen wird, deckt sich in Gänze mit der Haltung der ukrainischen Führung, die sich nichts von den intensiven „Friedenstelefonaten“ mit einem rücksichtslosen Aggressor verspricht, der einen Vernichtungskrieg führt, in großem Stil Kriegsverbrechen begeht und bisher keine echte Gesprächsbereitschaft gezeigt hat. Das ergebnislose Palavern des französischen Präsidenten, der überdies ein recht distanziertes Verhältnis zur ukrainischen Führung pflegt, wird von vielen enttäuschten Ukrainern demgemäß auch als Macronieren bezeichnet. (Michaela Wiegel: Russland nicht demütigen. In: FAZ, 10.06.2022, S.8)
Maßgebliche Politiker und Experten sowie die gesamte Weltöffentlichkeit haben sich von Putin täuschen lassen und sind eines Besseren belehrt worden. Was aber sind die Konsequenzen aus dieser bitteren Einsicht? Wie soll der Westen mit einem infamen, sich an keine Spielregeln haltenden Aggressor umgehen, der meint, sich mit brutalster Gewalt das zurückholen zu dürfen, was ihm angeblich zusteht?
Die trotz aller Abstimmungsprobleme bisher an den Tag gelegte Ge- und Entschlossenheit des Westens, das weitgehend gemeinsam abgestimmte Handeln von NATO und EU, stellen den russischen Aggressor bisher vor erhebliche Probleme, da er mit dieser Einheit des Westens nicht rechnen konnte. Gleichwohl zeichnen sich wie oben beschrieben innerhalb der EU zwei sehr verschiedene politische Haltungen und Verhaltensweisen im Umgang mit Putin und dem Krieg ab, die unter den Verbündeten gegenwärtig für erhebliche Verstimmung sorgen. Auch erweist es sich als wenig zielführend, wenn die EU wortreich scharfe Sanktionen gegen Russland ankündigt, diese aber von einem einzelnen EU-Staat (Ungarn) blockiert oder hinausgezögert werden, oder die Effizienz des nun endlich verhängten Embargos gegen russische Erdöllieferungen wegen der Wirtschaftsinteressen der mächtigen griechischen Reedereien verwässert wird. Sicherlich ist das auch der hohe Preis, den Demokratien dafür zahlen, dass lange, sich aus unterschiedlichen Interessen ergebende Aushandlungsprozesse auf der Tagesordnung stehen und dass Kompromisse erst nach schier endlosen Verhandlungen zustande kommen und teuer erkauft werden müssen. Das aber spielt gerade dem Kriegstreiber Putin in die Karten, der alles tut, um Europa und den Westen zu spalten. Wünschenswert wäre deshalb eine eindeutigere und entschiedener zum Ausdruck gebrachte Haltung der beiden europäischen Führungsmächte Deutschland und Frankreich gegenüber Putin und im Hinblick auf die Kriegsziele des Westens, denn nur eine militärische Niederlage wird die Russen dazu bringen können, von jener verhängnisvollen imperialen Ideologie Abstand zu nehmen, durch die nicht nur die Ukraine, sondern auch ihr eigenes Land ruiniert und die Weltordnung nachhaltig erschüttert wird. Insofern ist der amerikanischen Historikerin Anne Applebaum beizupflichten, wenn sie ausführt, dass ein wie auch immer gearteter gesichtswahrender Kompromiss zugunsten Putins weder künftige Aggressionen verhindern noch einen dauerhaften Frieden bringen wird. (Anne Applebaum: Warum Putin verlieren muss. Deutschland befürchtet, zu viel Hilfe für die Ukraine könnte Russlands Präsidenten provozieren. Doch der versteht nur Härte. In: Stern, 09.06.2022, S.36-37).