EU-Beitrittskandidatur – und dann?

Zbigniew Wilkiewicz

Ja, wir erinnern uns noch, was der Auslöser für den Majdan, den Machtwechsel in Kiew und die Besetzung der Krim sowie den acht Jahre währenden Krieg im Donbass war. Der nicht zustande gekommene Assoziationsvertrag der EU mit der Ukraine, dessen Abschluss Moskau mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln – inklusive Krieg und Annexion – zunächst unterbunden hat. Gegenwärtig führt Putin nun einen rücksichtslosen Vernichtungskrieg und geht mit offener und brachialer Gewalt gegen eine weitere Integration der Ukraine in westliche Strukturen vor.

Wie vor rund zehn Jahren war es nicht die fiktive Bedrohung Russlands durch die NATO, die den Kremlherrn zu diesem verhängnisvollen Angriff verleitete. Vielmehr war es die Perspektive einer demokratischen und wirtschaftlich prosperierenden Ukraine mit einer den europäischen Werten verpflichteten Zivilgesellschaft, die Putin dazu veranlasste, loszuschlagen. Diese Perspektive erschien immer wahrscheinlicher, weil es der ukrainischen Führung trotz aller Probleme und Schwierigkeiten gelungen war, sich im Rahmen des 2014 geschlossenen Assoziationsabkommens bei einigen wichtigen Verhandlungspunkten mit der EU zu einigen und entsprechende Fortschritte zu erzielen. Ungeachtet dessen ist das Land von einer EU-Mitgliedschaft, legt man die Erfüllung der geltenden Kopenhagener Beitrittskriterien an, noch sehr weit entfernt.

Ursula von der Leyen hat sich schon recht früh für eine Aufnahme von Beitrittsverhandlungen der Ukraine mit der EU ausgesprochen. Gemeinsam mit dem Vorsitzenden des Europäischen Rates, Charles Michel, besuchte sie Butscha und Borodjanka und händigte der ukrainischen Führung die für die Beantragung des Kandidatenstatus notwenigen Unterlagen aus. Dabei betonte sie, dass es die „moralische Pflicht der Union“ sei, der Ukraine diesen Status zu gewähren. Nachdem die Ukraine die Antragsunterlagen in kurzer Zeit bearbeitet und eingereicht hatte, war es das Europäische Parlament, das sich bereits am 8. Juni 2022 für den Kandidatenstatus der Ukraine aussprach.

Die jüngste Kiew-Reise Ursula von der Leyens erfolgte zeitgleich mit der Reise des Bundeskanzlers in die Länder des Westbalkans. Die Kommissionspräsidentin wies trotz allen Wohlwollens eindringlich darauf hin, dass Kiew die Korruptionsbekämpfung und die Bemühungen um Rechtsstaatlichkeit erheblich zu verstärken und zu beschleunigen habe. Sie verdeutlichte damit, dass es der Kommission damit sehr ernst war, den ukrainischen Antrag am 17. Juni positiv zu bescheiden und eine entsprechende Empfehlung auszusprechen.

Deshalb wurde der am 16. Juni 2022 erfolgte Besuch des deutschen Bundeskanzlers Scholz, des französischen Staatspräsidenten Macron, des italienischen Ministerpräsidenten Draghi sowie des rumänischen Staatspräsidenten Johannis in Kiew mit großer Spannung erwartet. Die Tatsache, dass sich die Chefs der bedeutendsten drei EU-Staaten anlässlich dieses Besuchs dafür ausgesprochen haben, den Antrag der Ukraine zu unterstützen, wodurch die am 17. Juni ausgesprochene Empfehlung der Kommission im Vorhinein nachhaltig gestützt wurde, hat einen hohen Stellenwert und wird die Entscheidung der übrigen EU-Staaten entsprechend präjudizieren. Man kann deshalb davon ausgehen, dass sich der Europäische Rat am 23.-24. Juni ebenfalls dafür aussprechen wird, auch wenn es berechtigterweise weiterhin Vorbehalte gegen ein beschleunigtes Verfahren in Sachen EU-Beitritt der Ukraine gibt.

Dass Russland aber gerade eine solche Annäherung der Ukraine an die EU befürchtet und mit allen Mitteln verhindern will, wird allein daran deutlich, dass Putin gerade jetzt am Gashahn dreht und seine Erdgaslieferungen nach Europa und damit auch nach Deutschland durch Nord Stream 1 unter fadenscheinigen Vorwänden spürbar drosselt. Damit soll der Gaspreis hochgetrieben und die EU gespalten werden. Man wird wohl schon recht bald erfahren, inwiefern die Erpressungsversuche des Kreml Erfolge zeitigen. Denn außer der Androhung, Europa das Gas abzustellen, spielt Russland durch seine Blockade der ukrainischen Schwarzmeerhäfen ganz bewusst mit der Möglichkeit, den Westen mittels einer weltweiten Hungerkatastrophe unter noch größeren Zugzwang zu setzen.

In dieser Situation hat der EU- Kandidatenstatus für die Ukraine in erster Linie einen symbolischen Wert, da er die Position der ukrainischen Führung stärkt und den (wahrscheinlich überhöhten) Erwartungen der ukrainischen Bevölkerung entgegenkommt. Wie schwierig und langwierig es aber ist, in dem der EU seit 2014 assoziierten Land Fortschritte in Sachen Rechtsstaatlichkeit und Korruptionsbekämpfung zu erreichen, haben die letzten acht Jahre bewiesen, zumal Russland sowohl wirtschaftlich als auch propagandistisch und militärisch alles getan hat, um die Ukraine zu destabilisieren.

Jetzt geht es Putin aber nicht nur um die Destabilisierung, sondern um die Unterwerfung der gesamten Ukraine. Die durch diesen Krieg verursachten materiellen Schäden dürften sich mittlerweile mit steigender Tendenz auf weit über eine Billion Euro belaufen. Wie kann aber der Wiederaufbau einer zukünftig in welchen Grenzen auch immer bestehenden Ukraine finanziert und abgesichert werden, wenn ein skrupelloser Aggressor, auch in absehbarer Zukunft alles daransetzen wird, das Land in Teilen zu besetzen, ganz zu unterwerfen oder gar zu vernichten? Ein Aggressor, dem der Westen aufgrund seines Vernichtungskriegs, seiner Kriegsverbrechen und seines erpresserischen Bedrohungspotenzials nicht vertrauen kann und darf?! Ein Aggressor, der schon weitere Kriegsziele (Baltische Staaten, Moldau) ins Visier genommen hat und der damit ganz offen verbündeten NATO-Staaten mit Krieg droht?

An Waffenstillstandsverhandlungen sind momentan weder die Ukraine noch Russland interessiert. Während die Russen unter Brechung des Völkerrechts in den von ihnen besetzten Gebieten im Donbass und im Süden Fakten schaffen, ukrainische Staatsbürger deportieren oder ihnen die russische Staatsbürgerschaft zwangsverleihen und in Melitopol und Cherson sämtliche Symbole ukrainischer Staatlichkeit tilgen, befinden sich die ukrainischen Truppen im Donbass in einem verlustreichen Abwehrkampf, den sie auf Dauer nur bestehen können, wenn der Westen massiv und möglichst schnell schwere Waffen liefert und sich gleichzeitig darauf einstellt, dass dieser Krieg noch lange dauern kann. Weder die ukrainische noch die russische Führung können sich angesichts der immensen Verluste an Menschen und Material einen aus ihrer Sicht faulen Kompromiss (Friedensvertrag?) leisten, der von der Bevölkerung des jeweiligen Landes und der Weltöffentlichkeit als Niederlage interpretiert werde würde. Stand jetzt müssen sich alle auf einen Abnutzungskrieg einstellen, der nach einer wie auch immer gearteten Waffenruhe bestenfalls in einem „frozen conflict“ endet, den Moskau immer wieder dann anheizen wird, wenn es seinen „russkij mir“ gefährdet sieht.

Will man eine solche fatale Entwicklung verhindern, so gibt es aus meiner Sicht nur eine schlüssige Antwort. Die Ukraine muss durch den Westen befähigt werden, diesen Krieg zu gewinnen und die russischen Invasoren zurückzudrängen. Gleichzeitig muss Russland militärisch so stark geschwächt werden, dass es auf absehbare Zeit nicht in der Lage ist, einen ähnlichen Angriff zu wiederholen. So hat das sinngemäß vor einigen Wochen auch der amerikanische Verteidigungsminister James Austin formuliert, und auch Ursula von der Leyen schloss sich dieser Argumentation an. Die politischen Verantwortlichen der beiden größten EU-Länder, Olaf Scholz und Emmanuel Macron, äußerten sich bis zuletzt wesentlich zurückhaltender. Man darf gespannt sein, ob ihr jüngster Kiew-Besuch diesbezüglich zu einer klareren Positionierung und entschiedeneren Haltung führt.

In diesem Kontext ist der voraussichtliche Kandidatenstatus der zur europäischen Völkerfamilie gehörenden Ukraine zwar ein wichtiger Baustein und ein Türöffner auf dem langen und steinigen Weg in die EU, allerdings wird es ohne den massiven und beschleunigten Einsatz westlicher Waffensysteme als Voraussetzung für einen ukrainischen Sieg über Russland weder einen akzeptablen Frieden noch die Möglichkeit für einen Wiederaufbau des zerstörten Landes geben. Ob der Westen tatsächlich dazu bereit und in der Lage ist, werden die nächsten Wochen mit den bevorstehenden G7- und NATO-Gipfeln auf Schloss Elmau (26-28. Juni 2022) und in Madrid (29.-30. Juni 2022) zeigen.