Dr. Zbigniew Wilkiewicz
Was macht eine Führungsmacht aus? Wohl, dass sie vorangeht. Kaum erklärt die Bundesverteidigungsministerin Lambrecht Deutschland zur Führungsmacht, gib es schon kritische Stimmen in ihrer eigenen Partei und natürlich auch in der Presse, denn wie betitelt etwa Bertold Kohler seinen Kommentar auf der Titelseite der FAZ vom 13.09.2022 recht lapidar: „Die Furcht der Führungsmacht“. Wonach er dann einige überfällige, aber recht unangenehme Fragen aufwirft, die nicht nur in Richtung Scholz und Lambrecht, sondern an den ganzen Westen gerichtet sind. Dieser sollte sich klar äußern, wozu er die Ukraine eigentlich unterstützt? Wenn Kohler Frau Lambrecht zitiert, dass Deutschland die Führungsrolle in Europa übernehmen müsse und dabei keine Angst zu haben brauche, so ist ihm beizupflichten, wenn er diese starken Worte mit dem Pfeifen im Ampelwalde vergleicht, in dem die Worte geschätzte 50 Prozent größer sind als die Taten.
Das passt durchaus ins Bild, denn am gleichen Nachmittag telefoniert der Bundeskanzler über eine Stunde ergebnislos mit Wladimir Putin, der sich beim Bundeskanzler über ukrainische „Kriegsverbrechen“ und westliche Sanktionen beschwert und natürlich nicht daran denkt, seine Truppen aus den besetzten ukrainischen Gebieten zurückzuziehen. Zuvor hatte Olaf Scholz erneut unterstrichen, dass es keine deutschen Alleingänge und keine Lieferung deutscher Kampfpanzer in die Ukraine geben werde.
Gleichzeitig sprechen sich führende Politiker der Union, der FDP und der Grünen dafür aus, die Ukraine endlich auch mit schweren Panzern zu beliefern, die bekanntlich seit einiger Zeit von der Industrie gewartet bereitstehen. Ähnliche Forderungen hat der ukrainische Außenminister Kuleba jüngst in Kiew gegenüber der deutschen Außenministerin Baerbock erhoben. Und auch die amerikanische Botschafterin in Berlin meinte kürzlich, dass Deutschland mehr tun könnte. Ganz zu schweigen von Regierungsvertretern und Kommentatoren in den mittelosteuropäischen Staaten, die der deutschen Führung nicht nur Passivität, sondern gar „Verrat“ an der Ukraine vorwerfen.
Hingegen sorgt sich Kevin Kühnert um die psychische Verfassung des Kremlherrn, der völlig irrational handeln und vielleicht noch andere Staaten angreifen könnte. Dabei verkennt Kühnert, dass der militärische Überfall auf andere souveräne Staaten schon längst auf der Agenda des durchaus rational kalkulierenden Kremlherrn gestanden hat und steht. Kühnert fürchtet mit Recht einen möglichen Konflikt mit der NATO und damit auch mit Deutschland. Vielleicht fürchtet er auch, dass Putin – in die Enge getrieben – taktische Atom- oder Chemiewaffen in der Ukraine einsetzen könnte. Möglich… Aber solange es ein von Putin geführtes Russland gibt, werden wir immer in dieser Gefahr schweben, denn dieses Russland hat sich schon seit langem aus dem Kreis zivilisierter Staaten verabschiedet, hält sich an keine Verträge und ist kein seriöser Gesprächspartner mehr. Es hat in diesem verbrecherischen Krieg inzwischen so viele rote Linien übertreten, dass die Mahnung des russischen Botschafters in Berlin, dass Deutschland mit seinen Waffenlieferungen eine „rote Linie“ überschritten habe, geradezu grotesk klingt.
Im Übrigen gibt es sehr einleuchtende Gründe dafür, warum Russland trotz aller propagandistischer Drohungen mit einem totalen Krieg gegen die Ukraine und den Westen ein solches Risiko nicht eingehen wird. Es liefe Gefahr, seine letzten verbliebenen „eurasischen Verbündeten“ zu verlieren und total isoliert dazustehen. Einen der (westlichen) Welt aufgezwungenen totalen (atomaren) Krieg würde es mit Selbstvernichtung bezahlen. Das will selbst der „irrationale“ Kremlchef nicht.
Darin sind sich die meisten westlichen Militärexperten, die in den letzten Monaten mit ihren Expertisen an die Öffentlichkeit getreten sind, weitgehend einig. In Deutschland denke ich da in erster Linie an Claudia Major und Carlo Masala, denen man aufmerksam zuhören sollte. Noch besser wäre es, wenn die deutsche Regierung auf sie hören und entsprechende Konsequenzen ziehen würde. Als weniger furchtsame und entschlossenere Führungsmacht.
Gerade angesichts der aktuellen militärischen Erfolge der ukrainischen Einheiten sollte die Unterstützung der Ukraine möglichst rasch und massiv intensiviert werden, denn das könnte diesen Krieg verkürzen und dafür sorgen, dass die Zahl der Kriegsopfer, die durch den russischen Beschuss ziviler Ziele jetzt schon sehr hoch ist, nicht weiter steigt. Natürlich muss dies in Absprache mit den Verbündeten geschehen, der „Sonderweg“ Deutschlands als Führungsmacht bestünde dann allerdings darin, abgestimmt voranzugehen und die Ukraine damit zu beliefern, was sie jetzt mehr denn je benötigt. Schwere Waffen, um ihr besetztes Land befreien zu können und es erfolgreich zu verteidigen.