Noch immer oder wieder: Russland-Versteher?

Dr. Zbigniew Wilkiewicz

In einer kürzlich durchgeführten Umfrage konnte man erfahren, dass zunehmend mehr Deutsche der russischen Propaganda auf den Leim gehen, was nicht nur auf eine allgemeine Kriegsmüdigkeit, die Angst vor einem kalten Winter und die Erpressung mit einem angeblich möglichen oder wahrscheinlichen Einsatz von Atomwaffen zurückzuführen sei, sondern auch auf eine gezielte Beeinflussung der deutschen Öffentlichkeit durch eine entsprechende Kreml-Propaganda und durch deren deutsche Unterstützer.

Auch gib es in den USA sowohl bei Republikanern als auch bei Demokraten Stimmen, die mit dem Hinweis auf die jetzt anstehenden Midterms kundtun, dass die Ukrainer im Hinblick auf bisherige massive finanzielle und militärische Unterstützung durch die USA demnächst nicht mehr auf amerikanische „Blankoschecks“ zählen dürfen. Und angeblich drängt die amerikanische Diplomatie die ukrainische Führung ganz aktuell dazu, auf russische Verhandlungsangebote einzugehen.

Derweilen bombardiert Russland mit Hilfe iranischer Drohnen und Raketen sowie Munitionslieferungen aus Nordkorea ukrainische Städte, deportiert Zivilbevölkerung aus den besetzten und unrechtmäßig an Russland angegliederten Territorien, beschießt zivile Ziele und die energetische Infrastruktur des Landes.

Im russischen TV werden Ukrainer als „Ungeziefer“ bezeichnet, Putin fordert, dass die Ukraine nicht nur entnazifiziert, sondern vom „Satan“ befreit werden müsse und der russische Propagandist Anton Krassowski schlägt gar vor, ukrainische Kinder, die sich ihren „russischen Befreiern“ widersetzen und als Besatzer bezeichnen, zu ertränken oder zu verbrennen. Ähnliche Töne hört man tagtäglich von den Chefpropagandisten Solowjow und Simonjan, die allerdings nicht nur der Ukraine, sondern dem gesamten Westen mit Vernichtung drohen. Wir erinnern uns: Bereits im April 2022 propagierte der Novosti-Kommentator Sergejzew eine generationenübergreifende Entukrainisierung und wurde im Hinblick auf dieses völkermörderische Vorhaben vom einstigen Ex-Ministerpräsidenten Medwedew mit starken Worten unterstützt.

Und in Deutschland? Hier verspricht der Bundeskanzler, die Ukraine so lange zu unterstützen, wie dies notwendig sein werde, und findet die Außenministerin klare Worte im Hinblick auf den Putinschen Vernichtungskrieg und bekommt Serhij Zhadan den Friedenpreis des deutschen Buchhandels verliehen. Es gibt weiterhin breite Sympathien für die sich verteidigende Ukraine und für die vielen Flüchtlinge im Land.

Aber es mehren sich wie oben ausgeführt auch Stimmen, die angesichts der erheblichen wirtschaftlichen Belastungen und der schwierigen Energiesituation vor einem kriegsbedingten „Blackout“ warnen. Auch wird gegen die Anwesenheit (ukrainischer) Flüchtlinge protestiert, und es brennen schon wieder Flüchtlingsunterkünfte.

Nicht nur bei der notorisch putinesken Linken (Wagenknecht, Ernst) und der rechtsextremen AfD (Weidel) wird gefordert, die Sanktionen gegen Russland zu lockern oder gar aufzuheben, sondern auch prominente Politiker aus der FDP (Kubicki) und der CDU (Kretschmer) machen sich für russische Gaslieferungen und eine zukünftige Kooperation mit Russland stark. Und Ralf Stegner (SPD) stellt bei den Befürwortern von Waffenlieferungen „eine merkwürdige bellizistische Selbstgewissheit“ fest.

Ins Bild passt da auch die Beschwerde des SPD-Fraktionsvorsitzenden und bekennenden Pazifisten Ralf Mützenich, der sich kürzlich darüber empörte, dass sein Name auf einer ukrainischen „Terrorliste“ stehe. Mützenich war mit Personen wie Marine Le Pen und Alice Schwarzer auf einer Liste des ukrainischen „Zentrums für Desinformation“ gelandet“ und hatte sich bereits im Sommer 2022 darüber beschwert. Natürlich war dies keine „Terrorliste“, umso mehr irritiert die Wortwahl des führenden SPD-Politikers sowie die Tatsache, dass er diese alte Geschichte gerade jetzt wieder aufwärmt! (Reinhard Veser: Empfindlich. In FAZ, 07.11.22, S.8)

Sicherlich weiß Putin, dessen erschöpfte und trotz verdeckter Generalmobilisierung fortwährend dezimierte Streitkräfte aktuell vor einer weiteren militärischen Niederlage stehen, mit seiner angeblichen Gesprächsbereitschaft, nicht wenige (westliche) „Friedensfreunde“ zu beeindrucken.

Sie verschließen nicht nur vor den Schrecken des russischen Vernichtungskriegs geflissentlich ihre Augen, wenn sie sofortige „Waffenstillstandsverhandlungen“ fordern, sondern auch vor dem Umstand, dass ein wieder erstarktes Russland nach einer Phase der Erholung erneut versuchen wird, seine weitgespannten Herrschaftsziele in Europa mit Gewalt durchzusetzen.

Was aber will die ukrainische Führung und was wollen die Ukrainer/innen? Selenskyj hat sich klar geäußert: Voraussetzung für Verhandlungen mit Russland ist der Abzug der russischen Besatzer aus allen widerrechtlich von Russland annektierten und völkerrechtlich zur Ukraine gehörenden Gebieten. Das ist nur recht und billig, genauso wie die Forderung nach entsprechenden Kriegsentschädigungen und nach Bestrafung der tausendfach begangenen Kriegsverbrechen. Und das ist und muss auch die Position des Westens sein, tertium non datur!

Ein Einknicken gegenüber Putin und dem imperialistischen Russland, wie es in der Vergangenheit trotz anderslautender Vertragswerke und Garantien wiederholt geschehen ist, wäre verhängnisvoll. Dies aber ist angesichts der realen Machtverhältnisse, der brutalen Kriegsführung Putins, seiner atomaren Drohgebärden und seiner rücksichtslosen Erpressung Europas durch ausbleibende Energieversorgung eine bittere Lektion für einen Kontinent, in dem man sich über lange Jahrzehnte daran gewöhnt hat, Konflikte gesprächsweise und gewaltfrei zu lösen. In Europa und in Deutschland sind wir gerade dabei, diese Lektion zu lernen, uns von Illusionen zu befreien und uns hoffentlich ehrlicher zu machen.

Um dies zu erreichen, ist es aber auch notwendig, denjenigen entschieden zu widersprechen, die auch heute noch das Russland Putins verharmlosen oder gar als Opfer des Westens und der NATO stilisieren. Ich denke in diesem Zusammenhang unter anderen an die verhängnisrolle Rolle der Publizistin und ehemaligen Russlandkorrespondentin Gabriele Krone-Schmalz, die weiterhin sehr einflussreich ist und trotz ihrer mehr als fragwürdigen Darstellung und Interpretation der Ost-West-Beziehungen weiterhin als ausgewiesene Russlandexpertin gehandelt wird. Zuletzt trat Krone-Schmalz viral in einer von der VHS Reutlingen organisierten Veranstaltung auf, die immerhin 790.000 mal aufgerufen wurde.

Damit wird der notorischen Russland-Versteherin, die schon in der Vergangenheit in ihren Publikationen zur Schuldumkehr gegenüber Putins Russlands neigte, indem sie den Westen und die NATO für die aggressive Politik des „Opfers“ Russland verantwortlich machte, eine sehr breite Bühne eröffnet, die sie effektiv zu bespielen weiß. Der Tübinger Osteuropahistoriker Klaus Gestwa, der die Entscheidung der VHS Reutlingen, Gabriele Krone-Schmalz einzuladen, bereits im Vorfeld kritisiert hatte, charakterisiert die Aktivitäten und Intentionen der umstrittenen Publizistin wie folgt: „Gabriele Krone-Schmalz gefällt sich in der Rolle der politischen Influencerin, die ihr publizistisches Geschäftsmodell darin gefunden hat, die russische Kriegspolitik zu erklären und auf die notwendige kritische Distanz und Reflexion verzichtet oder diese nur publikumswirksam vorgibt.“ (Die Chance zum kritischen Diskurs hat die VHS Reutlingen leichtfertig verspielt. Interview mit Prof. Klaus Gestwa, Uni Tübingen. In: t-online Nachrichten aus Deutschland, 3.11.2022).

Natürlich hat Frau Krone-Schmalz in unserer Demokratie das Recht, sich frei zu äußern und ihre Meinung zu veröffentlichen. Allerdings hat sie ihren damit verbundenen Anspruch, dies als sachkundige, objektive Berichterstatterin und Russland-Expertin zu tun, schon lange verwirkt. Dies müsste auch der Leitung der VHS Reutlingen bekannt gewesen sein, zumal sie noch einmal explizit auf diese Sachlage hingewiesen wurde. Die mit öffentlichen Mitteln geförderten Volkshochschulen haben einen Bildungsauftrag, der eigentlich ausschließen sollte, dass man einer entschiedenen Russland-Versteherin und Putin-Erklärerin ein breites Podium eröffnet, auf dem sie quasi unwidersprochen ihre Desiderate vertreten darf. Damit trägt Krone-Schmalz mit ihrer einseitigen und verzerrten Interpretation der Geschehnisse und Ursachen für den verbrecherischen Vernichtungskrieg Putins dazu bei, dass die russische Propaganda – wie eingangs erwähnt – in Deutschland an Boden gewinnt.