Dr. Zbigniew Wilkiewicz
Die jüngst auch in deutschen Medien geführte Diskussion um den Stellenwert der russischen und sowjetischen Literatur im Hinblick auf den hegemonialen Anspruch Russlands, der seinen dramatischen Ausdruck in dem nunmehr seit acht Monaten geführten Krieg in der Ukraine findet, reißt nicht ab. Dass es dabei vor allem die Aussagen prominenter ukrainischer Autoren/innen sind, die der russischen Kultur, insbesondere aber der klassischen und Gegenwartsliteratur in dieser Hinsicht ein schlechtes Zeugnis ausstellen, ist nicht verwunderlich. In der Ablehnung alles Russischen ist sich momentan nicht nur die Mehrheit der Ukrainer/innen einig, sondern auch zahlreiche Intellektuelle. In entsprechenden Aussagen wird nicht nur der politischen und militärischen Führung Russlands Unmenschlichkeit und Barbarei vorgeworfen, sondern es wird auch danach gefragt, wieso so viele Russen offenbar willfährig der primitiven und zynischen russischen Kriegspropaganda, in der systematisch eine Täter-Opfer-Umkehr betrieben wird, Glauben schenken. Dabei häufen sich die Stimmen, dass es gerade bedeutende russische Schriftsteller waren, die durch die Betonung der besonderen Mission Russlands, den durchgängigen Opfer- und Heldenmythos, die Herabsetzung anderer Völker (Kaukasier, Polen, Ukrainer) sowie des Westens insgesamt, dieser Geisteshaltung Vorschub geleistet und sie maßgeblich beeinflusst haben.
In diesem Sinne haben sich u.a. dir namhaften ukrainische Autoren Juri Andruchowytsch und Serhij Zhadan, die bekannte ukrainische Schriftstellerin Oksana Sabuschko und der ukrainische Philosoph Volodymyr Yermolenko zu Wort gemeldet. Darin finden aufgrund der Brutalität des russischen Vernichtungskriegs Schmerz und Trauer ihren Ausdruck, aber auch Fassungslosigkeit angesichts der Russlandzentriertheit und Naivität westlicher Politiker. Etwa wenn Andruchowytsch einen Appell des Europäischen Parlaments an das russische Volk so kommentiert:
„Am letzten Tag, an dem die russischen Truppen Butscha verließen und #BuchaMassacre vollendeten, haben die Chefs der wichtigsten Fraktionen des Europäischen Parlaments einen Appell an das russische Volk gerichtet. Sie schreiben von ihrer Sehnsucht nach der Einheit mit Russland und von der großen russischen Kultur. Von Tschechow und Bulgakow und natürlich von Tolstojewski – ohne dieses doppelköpfige Monster geht es ja nicht. Sie schreiben von ´gemeinsamen Werten´ von Dublin bis Wladiwostok. Warum sagen wir nicht gleich: bis zu den Kurilen. Aber wie kann man an etwas appellieren, das es nicht gibt? Geehrte Oberhäupter der Fraktionen, wo sind ihre Köpfe geblieben? Dass sie keine Herzen haben, das wusste ich bereits.“ (Juri Andruchwytsch: Alles, was wir sehen, ist böse. Zu den russischen „Aktivitäten“ und westlichen Reaktionen darauf. In: FAZ, 08.04.22, S.9)
Einen etwas anderen Ton schlägt auch Serhij Zhadan, der diesjährige Preisträger des Friedenspreises des deutschen Buchhandels, in seinem kürzlich in deutscher Übersetzung erschienenen Buch „Himmel über Charkiw. Nachrichten vom Überleben im Krieg“ an. Mehrfach bezeichnet der die Russen aufgrund ihrer brutalen Kriegführung als Barbaren, die gekommen seien, um die ukrainische Geschichte, Kultur und Bildung zu zerstören. Mit dem Hinweis auf die nationalsozialistischen Vernichtungskriege Adolf Hitlers, zieht er eine Parallele zum heutigen Russland unter Putin: „Ein Volk, das nicht in der Lage ist, vor der Bombardierung von Städten in einem fremden Land Halt zu machen, hat nicht das Recht, die Schuld einem angeblichen adolf aloisowytsch zuzuschieben. Das ist jetzt eure gemeinsame Last. Ihr seid jetzt gezeichnet. Fritze. Das war vor dem Zweiten Weltkrieg ein ganz normaler Name, nicht wahr? Aber bis heute gezeichnet. So wird es nun mit eurem Namen sein. Hinter Dostojewski könnt ihr euch nicht mehr verstecken. Die ´russische große humanistische´ Kultur sinkt auf den Grund wie die schwerfällige ´Titanic´. Also sorry, wie das russische Kriegsschiff.“ (Himmel über Charkiw. Berlin 2022, S.13,21).
Seine Kritik an der Ignoranz des Westens gegenüber der Ukraine, besonders an Deutschland, kommt in der folgenden, von bitterer Enttäuschung geprägten Passage zum Ausdruck: „Ich weiß noch, wie wir am Anfang der ganzen Ereignisse, im März 2014, in Berlin mit einem ehemaligen (Bundeswehr-)General diskutierten. Ich weiß noch, wie freudig ein Teil des Publikums auf die Aussagen des Generals reagierte, Russland habe ´ein Recht auf die Krim`, die Ukraine sei, wenn sie sich wehrte ´selbst schuld` und so weiter und so fort. (…) Ich weiß noch, wie Außenminister Steinmeier mich leicht gelangweilt nach der Lage in der Ukraine befragte.“ (ibd., S.52)
Auch Oksana Sabuschko unterstellt in ihrem Essay dem Westen Naivität und Wunschdenken im Hinblick auf den Charakter der russischen Literatur. Besonders intensiv arbeitet die Autorin sich an Lev Tolstoj und seiner These ab, dass es auf der Welt keine Schuldigen gebe, da dies zu einer für die russische Literatur und Gesellschaft bezeichnenden Relativierung von Verantwortung und Schuld, zu einer Verharmlosung des Bösen geführt habe. Vor dem Hintergrund des Disputs zwischen Milan Kundera und Joseph Brodsky über die Europeizität der russischen Literatur und Dostojewskis Kult für das Emotionale und seine Verachtung der Vernunft, verknüpft Sabuschko diese Vorstellungen Tolstojs und Dostojewskis mit dem russischen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine: „Inzwischen lässt sich wohl kaum leugnen, dass Putins Angriff am 24. Februar pures Dostojewskitum im Sinne Kunderas war, und genau unter dieser Perspektive lässt sich der Feldzug richtig verstehen: Unberührt vom Denken Kants oder Descartes, aber auch von Clausewitz, handelt es sich um die Explosion reiner destillierter Bösartigkeit, eines lang unterdrückten historischen Neids und Hasses, verstärkt durch das Gefühl absoluter Straflosigkeit.“ Sie resümiert, dass es an der Zeit sei, die russische Literatur unter einem anderen Blickwinkel zu lesen, denn sie habe fleißig an „dem Tarnnetz für die russischen Panzer mitgeknüpft“. (Oksana Sabuschko: Lektionen aus einem großen Bluff – der Weg zum Massaker von Butscha führt auch über die russische Literatur. Der europäische Charakter der russischen Kultur wird auch und gerade in Zeiten des Überfalls auf die Ukraine betont. Doch sollte man endlich genauer hinschauen. Denn russischer Humanismus folgt dem Irrglauben, dass «es keine Schuldigen auf der Welt gibt» (Tolstoj). (In NZZ, 28.04.2022, https://www.nzz.ch/feuilleton/lektionen-aus-einem-bluff-russische-literatur-nach-butscha-ld.1681267)
Yermolenko konstatiert hingegen in seinem mit zahlreichen Beispielen belegten Essay, dass es in der russischen Literatur nur kaum oder nur in Ansätzen zu einer „Dekolonisierung“ gekommen sei: „Of course, Russian culture is no single cause for Russian crimes, and the connection between culture and politics is never linear. But it is naive to think that Russian culture is innocent and free from the imperialist discourse that has been at the core of Russian politics for centuries. (…) So if you’re looking for the roots of Russia’s violence against its neighbors, its desire to erase their history, and its rejection of the ideas of liberal democracy, you will find some of the answers on the pages of Pushkin, Lermontov, and Dostoevsky. (Volodymyr Yermolenko: From Pushkin to Putin: Russian Literature’s Imperial Ideology Russian classical literature, chock full of dehumanizing nationalism, reads disturbingly familiar today. In: Foreign Affairs, 25.06.2022, https://foreignpolicy.com/2022/06/25/russia-ukraine-war-literature-classics-imperialism-ideology-nationalism-putin-pushkin-tolstoy-dostoevsky-caucasus/)
Am Beispiel weiterer prominenter russischer und sowjetischer Schriftsteller lässt sich in der Tat gut nachzuvollziehen, wie stark ihre Werke von kolonialistisch-missionarischem und imperialem Denken geprägt sind. Der russische Nationaldichter Aleksandr Puschkin wertete in zahlreichen seiner Werke all jene Völker ab, die sich gegen den Imperialismus und Kolonialismus Russlands auflehnten. Der Widerstand der Kaukasusvölker gegen die russische Hegemonie sowie der polnische Aufstand des Jahres 1830/31 wurden von Puschkin eindeutig verurteilt. Während er die Tscherkessen mit „wilden Tieren“ gleichsetzte, warf er den Polen Überheblichkeit und Undankbarkeit vor. Seinem einstigen Freund, dem polnischen Nationaldichter Adam Mickiewicz, der im Pariser Exil gegen den russischen Imperialismus und Panslavismus anschrieb, hielt er vor, mit dem Westen zu paktieren und zum Feind Russlands geworden zu sein. In seinem Gedicht „An die Verleumder Russlands“ mahnte er die Europäer davor, sich in einen „häuslichen Streit“ unter Slawen einzumischen: „Ob die Slawenflüsse sich ins russische Meer ergießen, oder ob dieses austrocknet, das ist die Frage.“ Die alten russischen Stereotype gegen den Westen und dessen verlängerten Arm, das intrigante Polen, wurden, wie Martin Schulze Wessel in seinem Artikel über die Kontinuität in der russischen Minderheitenpolitik vom Zarenreich über die Sowjetunion bis zu Putin kürzlich beschrieb, publikumswirksam wiederbelebt. Auf den Krieg in der Ukraine gemünzt rezitierte der russische Außenminister Sergej Lavrov am 1. November 2022 eben dieses Gedicht. Der Vortrag wurde per Video auf Twitter verbreitet. Die Botschaft ist klar, denn der Westen solle sich tunlichst davor hüten, sich in slawische „Familienangelegenheiten“ einzumischen. (Martin Schulze Wessel: Niemand ist unschuldig, nichts ist heilig. In: FAZ, 15.11.22, S.12). Ähnlich deutlich fällt die Unterstützung Puschkins für den imperialen, die Ukraine vereinnahmenden Anspruch Russlands in seinem Poem „Poltawa“ aus, in dem der ukrainische Hetman Mazeppa, der sich mit dem Schwedenkönig Karl XII. gegen Peter I. verbündet hatte, als Verräter gebrandmarkt wird.
Nationalistisch-imperiale Töne finden sich auch bei Michail Lermontov, der den mit großer Grausamkeit geführten Kolonialkrieg Russlands im Kaukasus nicht nur guthieß, sondern ebenfalls mit den westlichen „Verleumdern Russlands“ abrechnete. Lermontov erweist sich hier als loyaler Untertan der Zarenherrschaft, das in der russischen Literaturwissenschaft aufrecht erhaltene Klischee vom regimekritischen Romantiker wird hier geradezu ad absurdum geführt.
Ähnlich bei Fjodor Tjutschew, einem weiteren bedeutenden Lyriker. Auch er zeigt für den Befreiungskampf der Polen kein Verständnis, vielmehr suggeriert er ihnen, sich als „Stammesbrüder der Russen“ zu fügen. Die Ausnahmestellung Russlands hat Tjutschew bekanntlich in seinem berühmten Vierzeiler festgeschrieben, mit dem ganze Generationen junger Russen und Sowjetmenschen sozialisiert wurden und der auch heute kaum an Aktualität verloren hat. Mit dem Unterschied vielleicht, dass der Traum vom Raum nach dem Zerfall der UdSSR zu einem phantomschmerzartigen Trauma vom (sowjetischen/russischen) Raum mutierte. Mit der Renaissance des aggressiven, expansiven Imperialismus unter Putin scheint dieses Trauma nun endgültig zu einem (selbst)zerstörerischen Albtraum mutieren zu wollen:
„An Russland scheitert der Verstand,
gemeiner Maßstab fasst es nicht;
Es ist ein ganz besonders Land –
an Russland glauben muss man schlicht.“
Polemischen Charakter, in erster Linie gegen die sich an Europa orientierenden Westler und Pjotr Tschaadaew, haben die Werke des Puschkin-Freundes Nikolaj Jazykov. In ihnen findet sich aber auch eine fundamentale Kritik an den Schriften des bedeutenden liberalen Literaturkritikers Wissarion Belinski. Bezeichnenderweise endet dessen liberale Gesinnung aber gerade da, wo es um den imperialen Machtzuwachs Russlands geht, in erster Linie bei der Behandlung der ukrainischen Frage. Für den „kleinrussischen Patrioten“, den ukrainischen Nationaldichter Taras Schewtschenko, der sich dem russischen Kulturimperialismus entgegenstellte, zeigt Belinski keinerlei Verständnis, im Gegenteil, für die Emanzipationsbestrebungen der ukrainischen Sprache und Literatur hat er nur Hohn und Spott übrig.
Die explizit antiwestlichen Ansichten und Schriften Fjodor Dostojewskis, vor allem aber auch sein gegen alles Polnische gerichtete Ressentiment, hatten einen prägenden Einfluss auf weite Teile der russischen Intelligenz. Die besondere Mission Russlands leitete Dostojewski aus einer klaren Abgrenzung vom westlichen Habitus und Lebensstil ab, dessen zivilisatorische Bedeutung für Russland er in Abrede stellte. Vielmehr beharrte er darauf, dass das orthodoxe Russland seine Zukunft in Asien zu suchen habe: „In Europa waren wir Gnadenbrotempfänger und Sklaven, aber nach Asien kommen wir als Herren. In Europa waren wir Tataren, aber in Asien sind auch wir Europäer.“ Auch der bedeutendste russische Symbolist, Aleksandr Blok, war von der besonderen Mission Russlands überzeugt. Die antiwestlichen Elogen Bloks kommen besonders in seinem Verspoem „Die Skythen“ (1918) zur Geltung.
Während die Vertreter der vorrevolutionären Epoche in erster Linie den russischen Imperialismus und Kolonialismus (begeistert) affirmierten, wobei ihr Affront gegen den dekadenten Westen deutlich exponiert wurde, sahen die nationalpatriotisch gestimmten Autoren der nachrevolutionären Zeit ihre schriftstellerische Aufgabe in erster Linie darin, den „Diffamierungen gegen die Sowjetunion“ entgegenzutreten. Umso mehr, als nach der vergeblichen Hoffnung auf die Weltrevolution seit dem Beginn der 1930er Jahre die Losung des Aufbaus des Sozialismus in einem Lande klar in den Vordergrund gestellt wurde. Hierfür stehen die Aussagen und Werke so bekannter sowjetrussischer Autoren wie Leonid Leonow, Sergej Michalkow und Konstantin Simonow, die sich rückhaltlos der totalitären Kulturpolitik unter Andrej Schdanow unterordneten, und in deren Kanon der Stolz auf das Vaterland und tiefempfundene Heimatliebe eine entsprechend dominante Rolle spielten. Dabei hatte die Hypostasierung der Bedeutung und Fähigkeiten des russischen Volkes, wie sie von Stalin nach dem Sieg über das Dritte Reich vorgegeben wurde, eine Art Richtlinienfunktion.
Diese sehr plakative und undifferenzierte Art von Literatur wird in den 1960er Jahren in der UdSSR von den Vertretern der sogenannten russischen Heimatlyrik abgelöst, deren erste Aufgabe es war, Russland, die Russen und ihre exzeptionelle Mentalität zu verklären. Hierbei spielt der Sieg über Nazi-Deutschland weiterhin eine eminente Rolle, wobei aber auch immer auf die historische Opferrolle der Rus’ (Tatarenjoch, Napoleon) rekurriert wird. Betont wird die Uneigennützigkeit des „Russischen Ivan“, der sich um die Befreiung zahlreicher Völker, vor allem aber der slawischen Brüder verdient gemacht hat, wobei mystische Überhöhungen nicht selten sind.
In der Ära des Niedergangs und Zerfalls der UdSSR findet die nationalpatriotische Linie in der russischen Literatur eine zum Teil extreme Fortsetzung, in der antiwestliche, aber auch antisemitische Töne, unüberhörbar sind. Zahlreiche russische Schriftsteller machten für die desolate Lage des Landes in erster Linie fremde Mächte und Kräfte verantwortlich, die den Zerfall der UdSSR und Russlands systematisch betrieben hätten.
Eine ähnliche Position bezog auch der berühmteste aller Dissidenten, Aleksandr Solženicyn, einst prominentes Opfer Stalins und entschiedener Gegner der Sowjetunion, der nach jahrelangem amerikanischen Exil nach Russland zurückkehrte, in seinen Schriften die Marktwirtschaft für die Zersetzung der russischen Wertestrukturen verantwortlich machte und sich als russischer Chauvinist entpuppte. Ähnlich die dem rechtsradikalen Lager angehörenden einstigen Dissidenten und Emigranten Aleksandr Zinovev und Eduard Limonov, die in ihren Werken die gewaltsame und unheilstiftende Verwestlichung Russlands beklagten. (Vgl.: Johann Meichel: Alles ist dem russischen Schwert untertan. Nationalpatriotismus russischer Schriftsteller des 19. und 20. Jahrhunderts. Von Puškin bis Solženicyn. Hamburg 1998).
Ein besonders krasses Beispiel für den russischen kolonialen Chauvinismus lieferte ausgerechnet der im amerikanischen Exil lebende einstige Sowjetdissident und Nobelpreisträger Joseph Brodsky, der die Ukrainer in seinem 1992 verfassten Gedicht „Auf die Unabhängigkeit der Ukraine“ wegen ihrer Loslösung von Russland auf obszöne Art als „Kürbis-Melonenvolk“ und „Dreckspack“ bezeichnet, das gemeinsam mit den „Fritzen“ und den „Pollacken“ Russland verraten und sich von der großen russischen Kultur abgewendet habe. Nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 wurde dieses beschämende Pamphlet Brodskys zu einem der populärsten Gedichte in Russland und von der Staatspropaganda weidlich ausgeschlachtet. (Eva Hepper: Wie Joseph Brodsky zum Ukraine-Hasser wurde. In Deutschlandfunk Kultur, 04.03.2015). Diesen Zwiespalt in der Haltung russischer Dissidenten kommentiert der in Berlin forschende Literaturwissenschaftler Zaal Andronikashvili zutreffend so: „Die Opposition zum russischen beziehungsweise sowjetischen Regime im Namen von Demokratie, Menschenrechten und Kultur schlägt an den Außengrenzen Russlands um in einen kulturellen Imperialismus, der seinerseits den politischen, zynisch gewalttätigen Imperialismus kaum zu verbergen vermag. Die ist eine Konstante in der russischen Kultur seit mehr als zweihundert Jahren.“ (Zaal Andronikashvili: Der Kampf gegen die Barbarei verlangt rabiate Maßnahmen. In: FAZ, 22.10.22, S.12).
Ob es der demokratischen russischen Opposition, die mundtot oder ganz tot gemacht wird oder ins Ausland geflüchtet ist, jemals gelingt, die russische Kultur von kulturellem Chauvinismus und politischem Imperialismus zu befreien, sie zu dekolonisieren, mutet angesichts der zunehmenden Faschisierung des Landes gegenwärtig utopisch an. Andererseits darf nicht in Vergessenheit geraten, dass es diese Opposition und eine ganze Reihe von zeitgenössischen russischen Schriftstellern/innen gibt, die sich sehr entschieden von der imperialen Haltung eines Großteils der russischen Autoren entfernt haben. Genannt seien an dieser Stelle nur die Namen der prominentesten, die sich weltweit einen Namen gemacht haben: Wladimir Sorokin, Viktor Jerofejew, Ljudmilla Ulizkaja, Boris Akunin oder Irina Scherbakowa. Sicher, das sind nur wenige, die sich dem russischen Mainstream widersetzen. Bekanntlich stirbt aber die Hoffnung zuletzt. (Michael Martens: Geniale Schriftsteller als Chauvinisten. In Russland hat man sich nicht wirklich bemüht, Geschichte und Kultur der Ukraine zu studieren. Man pflegte vielmehr ein hegemoniales Verhältnis zu einem Volk, das doch Teil der großen russischen Kultur sei: Ein Gespräch mit dem ukrainischen Literaturwissenschaftler Petro Rychlo. In: FAZ, 28.03.22, S.12)