Dr. Zbigniew Wilkiewicz
Es ist wirklich erstaunlich, wie „schnell“ sich die russische Propaganda den Erfordernissen anpasst. Über Monate war nur von einer „militärischen Spezialoperation“ in der Ukraine die Rede, bei der lediglich „erfahrene Berufssoldaten“ und freiwillige, „idealistische Patrioten“ zum Einsatz kommen sollten. Wer das Wort Krieg in den Mund nahm, musste bald nach dem Überfall auf die Ukraine mit hohen Haftstrafen rechnen.
Zu den erfahrenen Berufssoldaten zählt die russische Führung ganz offensichtlich auch die Angehörigen der Söldnertruppe „Wagner“, die mittlerweile um Tausende Strafgefangene, denen gutes Geld und Amnestie versprochen wurde, ergänzt wurde. Idealisten sind wohl auch die besonders patriotisch gesinnten Kadyrowzy, die mittlerweile – ähnlich wie die Wagner-Söldner – hohe Verluste zu beklagen haben. Dass der berüchtigte Tschetschenen-Führer Ramzan Kadyrow, der sich mehrfach für eine weitere Eskalation der russischen Kriegsführung ausgesprochen hat, in Russland als ausgesprochener Patriot gelten kann, kommt schon darin zum Ausdruck, dass nach Auskunft des stolzen Vaters drei seiner minderjährigen Söhne im Krieg gegen die Ukraine stehen. Ein Vorbild stellt auch Kadyrows Frau Medni dar, die inzwischen 12 Kinder (darunter vier Söhne) auf die Welt gebracht hat und dafür von Putin mit dem Titel „Mutter-Heldin“ ausgezeichnet wurde. Dieser Titel ist mit einer hohen Geldzuwendung verbunden und gebührt all jene Frauen, die zehn Kinder und mehr geboren haben und im Besitz der russischen Staatsbürgerschaft sind.
Auch der Chef der oben erwähnten Wagner-Gruppe, „Putins Koch“ Prigoschin, mittlerweile einer der mächtigsten und extremsten Kriegshetzer im Kreml, gehört ganz offenbar dieser Kategorie von „Idealisten“ und „Patrioten“ an. Das war kürzlich nachzulesen, als er für die im Internet kursierende, von seinen Leuten gefilmte Hinrichtung eines desertierten und rückgetauschten Wagner-Söldners (dem Delinquenten wurde nach kurzer Ansprache vor laufender Kamera der Kopf mit einem Vorschlaghammer zertrümmert) anerkennende Worte fand.
Das geistige Oberhaupt der orthodoxen Kirche Kyrill hat schon bei mehreren Anlässen hervorgehoben, dass es Pflicht und Ehre sei, für das von (westlichen) Feinden überfallene heilige Mütterchen Russland zu kämpfen und zu sterben. Trauernden russischen Müttern gab Kyrill den väterlichen Rat, stolz auf ihre gefallenen Söhne zu sein und sich um mehr Nachwuchs zu kümmern, denn dann sei der Verlust des einen im Krieg verlorenen Sohnes leichter zu verschmerzen.
Und erst kürzlich wurde bei einer Veranstaltung der kremlnahen „Gesellschaftskammer in Moskau“, die zu Ehren des „Herzens und des Heldentums der Soldatenmütter“ stattfand, von mehreren Rednern anerkennend hervorgehoben, dass viele Mütter, indem sie uns „das Teuerste geben“ gemeinsam mit ihren Söhnen dienen. Gerühmt wurden die Mütter, die ihre Söhne zu Helden erzögen.
Nicht eingegangen wird bei dieser und ähnlichen vaterländischen Veranstaltungen auf den Umstand, dass nach der Ausrufung der sog. „Teilmobilisierung“ Tausende junger Rekruten, die man ohne Ausbildung, Ausrüstung und Verpflegung an die Front wirft und die bei ihren mörderischen Einsätzen nicht selten von ihren Vorgesetzten im Stich gelassen werden, inzwischen vermehrt in Zinksärgen oder als Kriegsversehrte in die Heimat zurückkommen, in ukrainische Kriegsgefangenschaft geraten oder als vermisst gelten. (Viktor Jerofejew: Was kostet das Kilo Kanonenfutter? Seit der russischen Mobilmachung mehren sich die Klagen, Einberufene würden durch inkompetente Kommandeure verheizt. Da Putin nur auf Sieg setzt, sinkt der Wert des Menschenlebens rapide. In: FAZ, 12.11.22, S.11)
Die Proteste der russischen Soldatenmütter halten sich angesichts dieser traurigen Bilanz indes in Grenzen. Sie richten sich nicht gegen den Vernichtungskrieg Russlands in der Ukraine, ja nicht einmal gegen den Krieg an sich, vielmehr bitten die verzweifelten Frauen ausgerechnet Putin, Schojgu und andere Machthaber in untertänigem Ton um Hilfe für ihre Männer, Brüder und Söhne, indem sie die Führer an ihre Versprechungen erinnern und auf Abhilfe (Schonung von unerfahrenen und kampfuntauglichen Mobilisierten, bessere militärische Ausbildung, Ausrüstung und Verpflegung) hoffen: „Aus den Appellen spricht kein Zweifel an der Kreml-Darstellung des Angriffskriegs als Verteidigungskrieg um den Donbass und Russland selbst. Vom Überfall Ende Februar bis zu Putins Mobilmachungserlass vom 21. September herrschte in Russland das Bild des Kriegs als ´Spezialoperation´ vor, die von gutverdienenden Berufssoldaten und ´idealistischen´ Freiwilligen geführt werde und ´nach Plan´ verlaufe. Nun soll alles anders sein.“ (Friedrich Schmidt: Putin hilf! In Russland häufen sich Appelle von Frauen, ihre kämpfenden Männer besser auszustatten. Der Kreml verspricht ein Treffen. In: FAZ, 23.11.22, S.4)
Was die russische Führung, militärisch an allen Fronten in der Defensive, unter „Volkskrieg“ versteht, erleben wir gerade seit einigen Wochen in der Ukraine, denn das Land und seine Bevölkerung sollen durch den anhaltenden massiven Raketenbeschuss und die Zerstörung von Stromleitungen, Kraftwerken und anderer ziviler Einrichtungen gezielt terrorisiert und zur Aufgabe gezwungen werden. Gleichzeitig setzt man auf eine verstärkte Fluchtbewegung ukrainischer Bevölkerung in Richtung Westen, um die sich dort in einigen Ländern abzeichnende Kriegsmüdigkeit zu verstärken und für soziale Unruhe zu sorgen. Die Analogie zum Krieg in Syrien liegt auf der Hand. Die Zahl der russischen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit nimmt tagtäglich zu.
Da ist es gut, dass das Europäische Parlament jüngst in einer mit überwältigender Mehrheit angenommenen Resolution Russland als das bezeichnet hat, was es schon seit Langen ist: ein Terrorstaat, der vor nichts zurückschreckt. Die russische Reaktion auf die Resolution des EP kam postwendend: Eine Cyber-Attacke auf das EP und ein massiv intensivierter Raketenbeschuss der Ukraine. Damit machte Putin erneut deutlich, wie wenig er an Tatsachen interessiert ist und was er von Europa und seinen Werten hält.
Die europäischen Regierungen und Gesellschaften des Westens sollten sich gewahr sein, dass Putin nicht allein einen Krieg gegen die Ukraine, sondern gegen die gesamte westliche Welt führt. Dieser wird seiner eingeschüchterten, staats- und führerergebenen Bevölkerung nach beispiellosem militärischem Versagen nunmehr als „Verteidigungs- und Volkskrieg“ verkauft. Das heißt, der in Bedrängnis geratene Putin wird ohne jede Rücksicht alles aufbieten, um als Sieger aus diesem Krieg hervorzugehen. Sollte ihm das nicht gelingen, so muss er befürchten, nicht nur seine Macht, sondern seinen Kopf zu verlieren. Und deshalb mutiert die „militärische Spezialoperation“ nunmehr seit einigen Wochen zum „Volkskrieg“.
Russland bietet aus militärischer Schwäche Verhandlungen an, allerdings zu seinen Vorbedingungen (Anerkennung der russischen Annexionen durch die Ukraine) und um seine ausgebluteten Kampfeinheiten in der Zwischenzeit zu ergänzen und neu auszurüsten. Verhandlungen kämen aus Sicht der ukrainischen Führung zum gegenwärtigen Zeitpunkt – trotz oder gerade wegen des mit aller Härte geführten russischen Vernichtungskriegs – einer Kapitulation gleich.
Schließlich weiß man nicht nur in der Ukraine, dass sich nur ein besiegtes Russland, ob nun mit oder ohne Putin und nach entsprechender Kostenkalkulation, auf echte Friedensverhandlungen einlassen wird. Ob und wann sich die ukrainische Führung allerdings mit den Repräsentanten des russischen Terrorstaats an einen Tisch setzt, sollte allein von ihr entschieden werden.
Der „kollektive Westen“, gegen den Putin seinen „Volkskrieg“ führt, ist demnach gut beraten, einen Sieg Russlands in der Ukraine mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, auch mit weiter reichenden Raketensystemen zur Luftabwehr und schweren Panzern zu verhindern. Im ureigensten Interesse, um uns alle vor den Segnungen des „Russkij Mir“ und der Putinschen Weltordnung zu bewahren. (Gerhard Gnauck: Die Lage nutzen. Hofreiter für weitere Waffenlieferungen. In: FAZ, 21.11.22, S.3).