2022 – russischer Angriffskrieg und Preisschocks in EU-ropa
Dr. Gerhard Schüsselbauer
Nein, Karl Marx ist nicht zurück, aber zwei Gespenster gehen um in Europa und treiben ihr Unwesen, wenn auch höchst ungleich: das reale Sterben und Leiden in der Ukraine sowie die Rückkehr einer Totgeglaubten, der Inflation!
Krieg gegen die Ukraine
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und die Bedrohung auch weiterer europäischer (Nato-)Staaten durch das totalitäre russische Regime mit ihren Protagonisten Putin, Lawrow und Medwedjew hat seit Februar 2022 ein Ausmaß angenommen, das nicht für möglich gehalten wurde. Als die EU 2012 als einzigartiges Friedensprojekt den Friedensnobelpreis verliehen bekam, merkte der damalige Präsident des Europäischen Rates, der Belgier Herman van Rompuy, an, dass Krieg nach dem Zweiten Weltkrieg wegen der europäischen Integration undenkbar, aber nicht unmöglich geworden sei. Leider trifft diese Einschätzung nur auf die Länder der EU zu. Heute wissen wir, dass wir es stets mit einer veritablen Bedrohung durch das antidemokratische Regime in Moskau zu tun hatten und wir es uns viel zu leicht machten, durch Beschwichtigungspolitik auf Rohstoffsicherheit zu setzen. Nun muss diese veränderte Weltlage zwingend zu einer Frischzellenkur vor allem in der Energie- und Klimapolitik führen!
Graffitiwand in Budapest, 2022, eigenes Foto.
Der völkerrechtswidrige Einmarsch massiver russischer Truppen in der Ukraine hat zunächst zu einer tektonischen Verschiebung im Machtgefüge geführt. Die Zerstörung des aus russischer Sicht nicht lebensfähigen und niemals unabhängigen Staates Ukraine und seiner Staatlichkeit war das erklärte Ziel der russischen Invasion. Doch mit jedem Tag des wachsenden Widerstands und verbesserter Verteidigungsfähigkeit wurde die blanke Ohnmacht der russischen aggressiven Bestrebungen sichtbar. Heute geht es den Russen neben den Gräueltaten und der Verschleppung hunderttausender Ukrainer*innen – darunter vieler Kinder – um die Zerstörung der Infrastruktur, um so den Widerstandswillen der ukrainischen Bevölkerung zu brechen, völlig unabhängig davon, ob die Ukrainer*innen Ukrainisch oder Russisch oder eine Mischung davon als Muttersprache sprechen. Die momentane Lage Ende 2022 lässt sich am ehesten mit einem Stellungskrieg im Osten und Süden des Landes beschreiben. Ein wahrscheinliches Szenario ist daher ein langanhaltender, blutiger Krieg in diesen Landesteilen der Ukraine. Russland setzt auf maximale Zerstörung und Demoralisierung der ukrainischen Bevölkerung durch Terror, die Ukraine auf ihren Kampfeswillen und die militärische Ausrüstung durch westliche Staaten, die zunehmend offensive Militärtechnologien umfassen wird, um die Verteidigungsfähigkeit deutlich zu erhöhen. Auch 2023 wird vom russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und den sicherheitspolitischen und ökonomischen Folgen geprägt sein.
Inflation, Preisniveauverschiebungen
Das zweite Gespenst wähnten wir seit mindestens 30 Jahren tot. Die Entwicklung der Inflationsrate in Deutschland sowie im gesamten EU-Binnenmarkt nimmt besorgniserregende Ausmaße an. Und das konnte man schon vor dem 24. Februar 2022 aufgrund der Angebotsverknappung und Lieferkettenproblematik im Gefolge der Covid-19-Pandemie sowie der bereits 2021 gestiegenen Preise für Primärenergieträger beobachten. Der Krieg gegen die Ukraine wirkt hier wie ein Akzelerator und führt zu drastischen Preisniveauverschiebungen.
Die Veränderung des Konsumentenpreisindexes (KPI) im Vergleich zum Vorjahr stieg Ende des Jahres 2022 auf mehr als 10 Prozent in der EU. Das Ziel der Europäischen Zentralbank besteht darin, das Niveau der Preisniveauverschiebungen durch wirksame Instrumente der Geldpolitik auf höchstens 2 Prozent jährlich zu begrenzen. Dieses Ziel ist deutlich aus dem Ruder gelaufen, und daran trägt die EZB mit ihren geldpolitischen Entscheidungen der letzten mehr als zehn Jahre Mitschuld. Auch in den kleinen, importabhängigen baltischen Euro-Ländern sowie anderen Nicht-Euro-Ländern wie in Polen, Tschechien oder Ungarn beobachten wir eine inflatorische Spirale, die dringend unter Kontrolle gebracht werden muss. Polen hat mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems und der sozialistischen Wirtschaft Ende 1989 und 1990 einschneidende Erfahrungen mit inflatorischen Entwicklungen gemacht und musste mittels einer Schocktherapie die makroökonomische Stabilität herstellen. Der Preis dafür war auch eine drastisch gestiegene Arbeitslosigkeit im Zuge der ökonomischen Transformation. Ungarns Preisdeckelung für Kraftstoffe musste vor kurzem von der ungarischen Regierung zurückgenommen werden. Man kann nicht gegen den Markt regieren, das muss auch der sich für allmächtig haltende Ministerpräsident Viktor Orbán einsehen.
Was sind die Gründe für die Preissteigerungsraten, die wir gegenwärtig in Deutschland und in der EU sowie weltweit mit Ausnahme von China beobachten und die bei vielen Fachleuten die Alarmglocken schrillen lassen?
- Angebotsinduzierte Inflation: Ein wichtiger Teil der Inflationsentwicklung des Konsumentenpreisindexes ist auf die weltweit drastisch gestiegenen Preise für importierte und knappe Rohstoffe wie Rohöl und Gas zurückzuführen. In den Jahren 2020 und 2021 waren diese nach dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie und der verringerten weltwirtschaftlichen Nachfrage stark zurückgegangen und verharrten längere Zeit auf einem künstlich niedrigen Niveau. Schon in den letzten Monaten des Jahres 2021 sind diese Energiepreise jedoch so drastisch gestiegen, dass die Konsumenten in Deutschland oder anderen vom Import von Primärenergieträgern abhängigen Länder dies merklich spüren. Über den internationalen Handel und den internationalen Preiszusammenhang kommt es somit zu einer importierten Kosteninflation. Die inländischen Produzenten müssen diese Preissteigerungen dann an den Endverbraucher weitergeben, um konkurrenzfähig zu bleiben. Da Rohöl üblicherweise in US-Dollar abgerechnet wird, steigt somit auch der Druck auf den Wechselkurs, sodass der Euro kurzzeitig gegenüber dem US-Dollar abwertete.
- Geldpolitik der Europäischen Zentralbank: Die Geldpolitik der EZB war bis vor kurzem auf eine expansive Nullzinspolitik und damit eine Ausweitung der Geldmenge bei negativen Realzinsen ausgerichtet. Damit schaffte die EZB aufgrund des Erbes der Finanz- und Schuldenkrise vor etlichen Jahren ein Umfeld für eine beinahe unbegrenzte Liquiditätsversorgung. Der Grundsatz von Mario Draghi „Whatever it takes!“ wurde auch von seiner Nachfolgerin Christine Lagarde als EZB-Präsidentin nie ernsthaft in Zweifel gezogen. Damit glich die expansive Geldpolitik der EZB dem unkontrollierten Alkohol- und Drogenkonsum auf einer exzessiven Party, weil immer mehr Zentralbankgeld in die Volkswirtschaft geleitet wird. Dies führt einerseits zu einer Vermögenspreisinflation bei Immobilien, Grundstücken und Vermögenswerten wie Aktien und andererseits auch zu Veränderungen der Preisstruktur bei den Konsumentenpreisen. Im Lauf dieses Jahres musste die EZB die Zinswende und damit ein Ende der Party einläuten. Obwohl alle Marktakteure wussten, dass die geldpolitische „Drogenparty“ mit unbegrenzter Liquiditätsversorgung nicht ewig weitergehen konnte, verfolgte die EZB lange Zeit keine konsequente Exitstrategie, weil sie um die wirtschaftliche Erholung von Krisenländern des Euroraumes fürchtete. Dazu zählen neben Griechenland, Spanien und Portugal auch Frankreich und Italien. So befand sich die EZB in einem veritablen geld- und vor allem wirtschafts- und sozialpolitischen Dilemma, denn die Inflation trifft stets die sozial schwächeren Gruppierungen in einer Gesellschaft viel stärker als Wohlhabende, die der Inflation durch reale Vermögensanhäufung oder -umschichtung ausweichen können.
- Sozialpolitische Dimension der Inflation: Da die Inflationsentwicklung vor allem die breite Masse der Bevölkerung trifft, von denen ein Großteil ein kontraktbedingtes Einkommen (Lohn, Gehalt, staatliche Transferleistungen) bezieht, besteht eine weitere große Gefahr darin, dass sich eine Lohn-Preis-Spirale in Gang setzt. Darüber hinaus führen Lieferengpässe bei vielen Investitions- und Konsumgütern dazu, dass deren Preise ansteigen. Dies ist kein kurzfristiger Effekt. Der Anstieg der Lebenshaltungskosten wird den Druck auf Lohnverhandlungen erhöhen, damit Beschäftigte und Konsumenten nicht zu große reale Einkommensverluste bzw. Kaufkrafteinbußen hinnehmen müssen. Unternehmen müssen die gestiegenen Kosten wegen der Nominallohnerhöhungen an die Konsumenten weitergeben. Eine ungebremste Lohn-Preis-Spirale wäre eine echte Gefahr für alle Volkswirtschaften in der EU.
Zwischenzeitlich ging noch eine Variante des „Gespenstes“ um, nämlich das „Menetekel“ der Weltwirtschaft schlechthin – die Stagflation! Wirtschaftliche Stagnation (oder Rezession) und Inflation bedeuten bei einer Stagflation auch steigende Arbeitslosigkeit bei dauerhaften Preisniveauverschiebungen. Bislang sind wir in der EU davon verschont geblieben, auch weil sich wegen demographischer Entwicklungen eine Robustheit des Arbeitsmarktes zeigt. Im Gegenteil, der Fachkräftemangel in vielen Bereichen der Wirtschaft (Gesundheit, Bildung, Industrie, Handwerk, Transport) seinerseits erweist sich als echtes Wachstumshindernis. Langfristig muss die Geld- und Wirtschaftspolitik wieder zu positiven Realzinsen führen, um die Anreizmechanismen in den Wirtschaftsabläufen zurechtzurücken. Rationales Verhalten der Wirtschaftsakteure ist nur bei richtigen Preis- und Zinssignalen möglich. Das Jahr 2023 wird neben der Fortdauer des Krieges gegen die Ukraine auch große sozial- und wirtschaftspolitische Herausforderungen in Deutschland und in der EU mit sich bringen.