Scholzing

Dr. Zbigniew Wilkiewicz

Der Begriff des Scholzing schließt direkt an den des berühmt-berüchtigten Merkelns an und wird sich wohl demnächst, besonders nach dem kürzlichen Trauerspiel von Ramstein, auch international durchsetzen. Er wurde von dem britischen Historiker Timothy Garton Ash geprägt, der in einem direkt an Olaf Scholz gerichteten Beitrag die zögerliche Haltung in Fragen deutscher Waffenlieferungen kritisiert und Scholz dazu auffordert, entschiedener und schneller zu entscheiden und zu handeln.

Dabei hat Deutschland inzwischen, wenn auch immer zögerlich, eine ganze Menge auch schwerer Waffen geliefert und steht im Ranking der Waffenlieferanten an die Ukraine an zweiter Stelle, direkt hinter den USA. Trotzdem hagelt es im In- und Ausland herbe Kritik am Bundeskanzler und seiner SPD. Nun fetzt man sich auch noch ganz offen innerhalb der Koalition. FDP und Grüne nehmen nach dem Ramstein-Scholzing kein Blatt mehr vor den Mund, und Mützenich schießt entsprechend zurück. Warum diese Härte und warum nun auch der enorme Druck des Auslands, der auf Deutschland ausgeübt wird?

Im Unterschied zum Merkeln, bei dem bekanntlich „vom-Ende-her-gedacht“ wurde, die Kanzlerin sich nicht unter Druck setzen ließ und eine alternativlose Politik der kleinen Schritte betrieb, findet das Scholzing, das wir in Sachen deutscher Waffenlieferungen erleben, parallel zu der vom Namensgeber dieses Neologismus ausgerufenen Zeitenwende statt. Der Krieg in der Ukraine befindet sich seit einigen Wochen in einer entscheidenden Phase, in der es demnächst darauf ankommen wird, welche der beiden Kriegsparteien die Initiative übernehmen und den Gegner zurückdrängen kann.

Diejenigen, die davon ausgehen, dass die Ukraine siegen kann und muss, sprechen sich deshalb seit Monaten dafür aus, das Land mit den seit Kriegsbeginn geforderten Leopard-Panzern zu beliefern. In ihren Augen stellt der militärische Sieg der Ukraine über Russland die Grundvoraussetzung für die Aufnahme von Verhandlungen dar. Dazu gehören die Mehrzahl der europäischen Staaten, die USA, die höchsten Repräsentanten der EU, aber auch eine große Mehrheit des Europäischen Parlaments. Inzwischen kann von der Gefahr eines deutschen Alleingangs in Sachen Kampfpanzerlieferung nicht mehr die Rede sein. Briten liefern, Polen und Finnen wollen liefern, bekommen aber hierfür nicht die deutsche Genehmigung. Unkalkulierbar ist allerdings die Gefahr der Eskalationsbereitschaft Putins, die von seinen Propagandalautsprechern ständig wiederholte Drohung mit Atomschlägen.

Dieses Risiko wird uns aber angesichts eines unberechenbaren kriegslüsternen Russlands auch zukünftig erhalten bleiben. Und dieses Risiko wird besonders intensiv in Deutschland empfunden und diskutiert, womit die sprichwörtliche German Angst immer wieder neue Nahrung bekommt. Die Rolle der „besonnenen Mahner“ fällt dabei besonders der SPD zu. Zwar versichern deren Führungsgestalten immer wieder, dass sie die Ukraine so lange unterstützen werden, wie das nötig ist, aber das Wort von einem Sieg der Ukraine nehmen sie nicht in den Mund. Selbst beim hartnäckigsten Nachfragen bringt Rolf Mützenich das Wort „Sieg“ nicht über die Lippen und hält sich an die von Olaf Scholz vorgegebene Formel, dass die Ukraine nicht verlieren und Russland nicht siegen darf. Diese Formel aber steht für Unentschiedenheit und die Tendenz, abzuwarten, „vom-Ende-her- zu-denken“ und Risiken zu vermeiden. Das ist in Friedenszeiten gut gemerkelt, aber in Kriegszeiten schlecht gescholzt, und kommt weder bei den internationalen Bündnispartnern noch bei Opposition und Koalitionspartnern gut an. Wohl etwas besser bei der bundesdeutschen Bevölkerung, die in der Lieferung von Kampfpanzern geteilter Meinung ist.

Hinter der von Scholz geprägten und besonders von der SPD gepflegten Formel verbergen sich – wie Elvira Rosert und Frank Sauer zutreffend ausführen – offenbar Annahmen, die aber nicht offen ausgesprochen werden. 1. Man kann gegen Russland keinen Krieg gewinnen. 2) Konzessionen gegenüber Putin sind unausweichlich. 3) Putin kann – zu sehr unter Druck gesetzt – den Krieg nuklear eskalieren. Damit ist das Ende, von dem her gedacht wird, definiert: entweder gibt die Ukraine den Kampf um die Unabhängigkeit endlich auf und tritt Gebiete an Russland ab, womit ein russischer Nuklearschlag verhindert werden kann. Oder sie führt den Krieg unter hohen Verlusten an Menschenleben weiter – und erleidet eine Niederlage, verbunden mit einer nuklearen Katastrophe.

Allerdings folgen auf Putins starke Worte keine Taten, denn die Drohung mit Atomwaffen ist viel effektiver als ihre Umsetzung. Das muss zwar nicht so bleiben, aber es wird daran gearbeitet, dass es so bleibt: Die US-Regierung hat Putin eindringlich davor gewarnt, dass bei einem Einsatz von Nuklearwaffen Russlands Niederlage von den USA und der NATO erzwungen würde. Russlands inzwischen sehr ungünstige militärische und wirtschaftliche Lage würde sich im Falle von Atomschlägen weiter verschlechtern, denn mächtige Unterstützer wie China und Indien würden abrücken. Deshalb gibt es für Putin keinen Nutzen beim Einsatz von A-Waffen.

Insofern ist zögerliches Scholzing kontraproduktiv, nicht Abwarten und die vollkommen unbegründete Hoffnung auf russische Verhandlungsbereitschaft sind angesagt, sondern es muss rasch entschieden und gehandelt werden. Das setzt aber voraus, dass man sich von den oben vermuteten Annahmen verabschiedet und seine Ziele offen benennt. Das erstrebenswerte Kriegsziel der Ukraine und des sie unterstützenden Westens ist eine souveräne, von russischer Besatzung befreite Ukraine mit langfristiger territorialer Integrität. Das wurde von Scholz und Steinmeier auch wiederholt gefordert, aber keiner von beiden hat offen die Voraussetzungen dafür genannt.

Notwendig sind weitere militärische Siege der Ukraine, um diesem Ziel näher zu kommen. Die militärischen und territorialen Kräfteverhältnisse müssen langfristig so weit verschoben werden, dass Russland die Aussichtslosigkeit seines Eroberungsfeldzugs erkennt, seine Streitkräfte abzieht oder wenigstens ernsthafte Verhandlungen aufnimmt. Dafür braucht die Ukraine möglichst bald möglichst viele moderne Kampfpanzer.

(Elvira Rosert, Frank Sauer, „Die Zeit“ online, 03.01.23

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