Jannik Struckmeyer
Die Bundeswehr möchte 4.000 Soldat*innen dauerhaft in Litauen stationieren. Damit fokussiert sich Deutschland auf die Bündnis- und Landesverteidigung und intensiviert die Zusammenarbeit mit Litauen.
Als Reaktion auf den russischen Überfall und die Annexion der Krim 2014 verstärkten die NATO-Staaten ihre Präsenz an der NATO-Ostflanke. Vor dem finnischen Beitritt zur NATO waren Truppen aus allen NATO-Staaten in allen Ländern an der NATO-Ostgrenze von Estland bis Bulgarien stationiert. Im Rahmen der sogenannten enhanced Forward Presence (eFP) entsendet die deutsche Bundesregierung seit 2017 Kampftruppen nach Litauen. Geprägt war der Einsatz der 500 bis 600 Bundeswehrangehörigen bisher durch ein halbjähriges Rotationsprinzip. Deutschland versuchte so, die Stationierung von Bundeswehrsoldat*innen mit der NATO-Russland-Grundakte in Einklang zu bringen. Die NATO-Russland-Grundakte von 1997 verbietet die dauerhafte Stationierung von beispielsweise Bundeswehrtruppen in Litauen.
Seit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine verstärkte die Bundeswehr ihre Aktivitäten in Litauen und behielt das Rotationsprinzip bei. Die von Deutschland geführte „eFP-Battlegroup“ in Litauen hat derzeit eine Stärke von rund 1.700 Soldat*innen, davon über 1.000 der Bundeswehr. Angesichts des Rückzugs aus Mali und der Verstärkung der Präsenz zum NATO-Gipfel dürfte aktuell das größte Auslandskontingent der Bundeswehr in Litauen sein und auch bleiben. Integration in die örtlichen Verteidigungsstrukturen, Ausbildung und Übung sind Kernauftrag der Kampfverbände.
Teilweise wirkt der Umgang der Bundeswehr mit dem Auslandseinsatz in Litauen, als würden die Soldat*innen in einem sehr schlecht zugänglichen Kriegsgebiet am anderen Ende der Welt stationiert worden sein. Dabei hat Litauen längst den Euro eingeführt, eine Besiedlungsdichte im EU-Durchschnitt und einen Anteil von Glasfaseranschlüssen an allen stationären Breitbandanschlüssen von 78% (im Vergleich Deutschland nur 8%). Ein Großteil der Soldat*innen der letzten Rotation kam aus Ostwestfalen-Lippe. Der Weg von OWL nach Litauen ist kürzer als nach Mallorca.
Jetzt hat Deutschland die dauerhafte Entsendung von 4.000 Streitkräften statt wie zuvor eine temporäre Abordnung von Soldat*innen angekündigt. Diese dauerhafte Entsendung kennen wir von amerikanischen und britischen Soldat*innen in die Bundesrepublik und ist für die Bundeswehr komplett neu. Die Bundesregierung begründet die Entsendung damit, dass sich das Sicherheitsumfeld grundsätzlich verändert habe. Kurz gesagt, wenn sich Russland nicht an die internationalen Verträge hält, tun wir es in Bezug auf die NATO-Russland-Grundakte auch nicht.
Besonders gefährdet ist das gesamte Baltikum durch ein schnelles Abschneiden der Länder Estland, Lettland und Litauen von Polen und der restlichen NATO an der Suwałki-Lücke. An der Suwałki-Lücke trennen die russische Exklave Kaliningrad und Belarus nur 65 km. Die Memel stellt hier zunächst kein Hindernis dar. Landschaftlich ist die Region durch Felder geprägt. Die Ortschaften und Wälder sind klein und gut zu umfahren. Geografisch ist hier die einfachste Möglichkeit für ein schnelles Vorankommen von Landstreitkräften.
Diese Bundeswehrtruppen sind sinnbildlich für einen wesentlichen Teil der Zeitenwende. Bis Anfang der 1990er Jahre war die Aufgabe der Bundeswehr die Landes- und Bündnisverteidigung, ab Ende der 1990er Jahre lag der Schwerpunkt bei Einsätzen vor allem in Afghanistan, Mali sowie am Horn von Afrika. Nun sind wir ein Stück weit wieder in den 1980er Jahren angelangt. Die atomare Bedrohung ist greifbarer und die Außengrenzen sollen besser geschützt werden.
Wir sehen, wie die Zusammenarbeit von zwei europäischen Ländern massiv ausgeweitet und dauerhaft gefestigt wird. Für mich steht die Kooperation zwischen Litauen und Deutschland beispielhaft dafür, wie Gemeinschaft in Europa aktuell mit Leben gefüllt wird. Wir erleben ständig neue Krisen in Europa, die wir nur gemeinschaftlich lösen können. Zu den Krisen zählen überschuldete Staaten, Kriege und Fluchtbewegungen, die Corona-Pandemie sowie der Klimawandel. Bei den Beziehungen zwischen europäischen Ländern muss nicht zwingend die EU zum Akteur werden. Wir sind gezwungen, pragmatische Lösungen für diverse Krisen und Probleme zu finden. Dadurch wird die Zusammenarbeit in Europa weniger abstrakt.
Wir leben in einem Europa und einer Welt, in der wir für die größten Probleme nur internationale Lösungen finden können. Soziale, wirtschaftliche, kulturelle und politische Unterschiede sind allgegenwärtig in Europa. Menschen haben unterschiedliche Ängste, Sorgen und Probleme. In Litauen wird die Sicherheit gegenüber Russland anders betrachtet als in Deutschland. Globalisierung, Technisierung und Digitalisierung verändern die Welt rasant. Inflation, sinkende Reallöhne, die Schließung von Geschäften und vieles weiteres verringert den Wohlstand in Deutschland. Kohleausstieg, das Verbot von Gas- und Ölheizungen und Verbrennungsmotoren sind Gesetze, die die Veränderungen noch weiter beschleunigen. Und Klimaaktivist*innen fordern noch radikalere Veränderungen, damit das Klima sich nicht radikal verändert. Diese Heterogenität erfordert mehr Kennenlernen, Austausch und Akzeptanz der divergierenden Perspektiven, um gesellschaftlichen Spaltungen entgegenzuwirken.