Dr. Zbigniew Wilkiewicz
Die kritischen Stimmen hinsichtlich der abwartenden Haltung der Bundesregierung in Sachen Lieferung des Lenkflugsystems Taurus an die Ukraine sind im In- und Ausland nicht zu überhören. Entsprechende Debatten in den Medien und in Fachkreisen halten seit langen Wochen an, die wichtigsten Argumente, die dafür oder dagegen sprechen, sind ebenfalls längst ausgetauscht worden. Aus militärischer Sicht gibt es keinen Zweifel daran, dass Taurus – ähnlich wie die bereits gelieferten französischen und britischen Marschflugkörper – die ins Stocken geratene Offensive der ukrainischen Streitkräfte erheblich unterstützen könnte, zumal das deutsche System nicht GPS-gestützt funktioniert und damit für die russische Seite weitaus schwieriger auszumachen ist. Problematisch ist die größere Reichweite des deutschen Systems, die es erlauben würde, auch Ziele im russischen Kernland zu erreichen.
Gleichzeitig wird versichert, dass es sich dabei lediglich um ein technisches Problem handele, das durch entsprechende Umprogrammierung lösbar wäre. Der Stier ließe sich also durchaus zum Ochsen machen, wodurch sich nur wenig an der Effektivität des Systems ändern würde. Unabhängig davon steht dieses Thema seit Wochen im Zentrum der Überlegungen von Politikern, Experten und Medien, denn man möchte nicht Gefahr laufen, dass deutsche Waffen auf russischem Territorium zum Einsatz kommen. Dabei werden historische Einsichten und Lektionen aus dem von Deutschland gegen die UdSSR geführten Vernichtungskrieg ins Feld geführt, in erster Linie geht es aber um die von Olaf Scholz und der Bundesregierung, aber auch von maßgeblichen Politikern der Opposition heraufbeschworene Furcht vor einer weiteren Eskalation des Krieges, die dazu führen könnte, dass Deutschland zur Kriegspartei würde.
Sarah Wagenknecht hat bei Anne Will kürzlich vorgeführt, wie man als „friedliebendes“ Sprachrohr Putins im Gleichschritt mit der AfD Ängste schürt (3. Weltkrieg, Einsatz deutscher Ruppen in der Ukraine), um damit für einen „friedlichen Kompromiss“ zu werben. Dabei zeigte sie für die geopolitischen Interessen Russlands – wie gewohnt – viel Verständnis, während sie im Hinblick auf den Überlebenskampf der Ukraine, ihr Recht auf Selbstbestimmung und -verteidigung sowie staatliche Unversehrbarkeit kaum einging. Damit ist die inzwischen sowohl „linke“ als auch „rechte“ Positionen vertretende Wagenknecht im politischen Berlin zwar isoliert, allerdings spricht sie ganz sicher einem nicht unbedeutenden Teil der deutschen Gesellschaft aus dem Herzen, denn die German Angst vor Wohlstand- und Sicherheitsverlust ist wohlbegründet und geht allenthalben um.
Dabei sollte man allerdings nicht außer Acht lassen, dass es der von Putin vom Zaum gebrochene Vernichtungskrieg gegen die Ukraine ist, der von der russischen Propaganda inzwischen zu einem russischen Verteidigungskampf gegen den „kollektiven Westen“ erklärt wird, der in hohem Maße dazu beigetragen hat, die Lage nicht nur in Deutschland, sondern auch in ganz Europa zu destabilisieren. Man sollte sich immer wieder klar machen, dass es Putin ist, der sich über völker- und menschenrechtliche Verträge und Normen hinwegsetzt und einen aggressiven Imperialismus betreibt, bei dem ihm alle Mittel recht sind. Und man sollte nicht vergessen, dass es Putin und seine Propagandasprachröhren waren, die nicht nur der Ukraine, sondern der ganzen Welt mit nuklearer Vernichtung drohten, sollte nicht auf die russischen Forderungen eingegangen werden. Es war Putin, der die Friedenangebote Selenskyjs bei Seite schob und seinen von zahlreichen Kriegsverbrechen begleiteten Vernichtungskrieg ungerührt weiterführte. Frieden in Putins Auslegung hätte bedeutet, sich dem russischen Diktat bedingungslos unterzuordnen. Der Westen, insbesondere Deutschland, hat lange gebraucht, um auf diese permanente Bedrohung und Erpressung des Kremls adäquat zu reagieren. Durch die lange hinausgezögerte, endlich erfolgende Lieferung entsprechender Waffensysteme wurde die Ukraine immerhin in die Lage versetzt, sich erfolgreich zu wehren und sogar eine Gegenoffensive zu starten. Dies geschah, nachdem man den hanebüchenen Drohungen und Erpressungen Putins immer weniger Glauben schenkte, mutiger wurde und endlich verstand, dass ein tragfähiger Frieden in der Ukraine die militärische Niederlage Russlands zur Voraussetzung haben muss. Nur durfte das in Deutschland sehr lange nicht ausgesprochen werden, zumal auch weiterhin hartnäckig die These vertreten wurde, dass die Nuklearmacht Russland diesen Krieg gegen die weitaus weniger gerüstete Ukraine nicht verlieren könne. Also durfte die Ukraine gemäß dieser Sprachreglung den Krieg zwar nicht verlieren, aber auch nicht gewinnen. Das Gleiche galt für Russland, schließlich sollte Putin – trotz aller Blamagen, Bluffs, Misserfolge und Verbrechen – sein Gesicht wahren dürfen. Nach Butscha, Irpin und Mariupol sind allerdings selbst so ausdauernde Telefondiplomatem wie Olaf Scholz und Emanuel Macron im Hinblick auf die Kompromissbereitschaft Putins eines Besseren belehrt worden. Macron sprach nun davon, dass die Ukraine siegen müsse, um in der Ukraine und in Europa einen tragfähigen Frieden zu gewährleisten. Diese Auffassung wird inzwischen auch in Deutschland von maßgeblichen Politikern in Regierung und Opposition vertreten, um an dieser Stelle nur Michael Roth und Roderich Kiesewetter zu nennen. Nun wird deutlich und öffentlich postuliert, dass Russland verlieren müsse, um damit das Existenzrecht seiner Nachbarn zu gewährleisten. Auch wird hervorgehoben, dass das weitere Zögern Deutschlands bei der Lieferung des Taurus-Systems dazu führe, dass noch mehr Menschen stürben (Kiesewetter). Zudem sei klar, dass Putin durch einen „Scheinfrieden“ mit der Ukraine nicht gestoppt werden könne. Lasse man ihn wie nach 2014 gewähren, so werde die Ukraine sicherlich nicht sein letztes Opfer bleiben (Roth).
Insofern lässt sich nur schwer nachvollziehen, warum Scholz und Pistorius in Sachen Taurus erneut so lange zögern. Offenbar wartet man wiederum auf den ersten Schritt der USA, die bisher auch nicht bereit waren, der Ukraine ihre „ATACMS“-Raketen zur Verfügung zu stellen. Man darf gespannt sein, ob anlässlich der am heutigen Dienstag (19.09.2023) stattfindenden Ramstein-Konferenz Bewegung in die Sache kommt, denn die Ukraine braucht nicht nur „solange wie nötig“ unsere Unterstützung im Überlebenskampf, sondern „mit allen erforderlichen Mitteln“ – und zeitgerecht. (Klaus Wittmann: Die Ukraine hat nicht alle Zeit der Welt. In: Westfalen-Blatt, 19.09.2023, S.5)