„When the party’s over!“ (Billie Eilish, US-amerikanische Singer-Songwriterin)
Dr. Gerhard Schüsselbauer
Die renommierte britische Fachzeitschrift „The Economist“ geht seit jeher nicht zimperlich mit der britischen Politik und Wirtschaft um. Gerade gegen den Brexit legte sie sich mächtig ins Zeug, geißelte und prangerte immer wieder die gravierenden Folgen des Brexit für die britische Gesellschaft und Wirtschaft an. Und viele dieser ökonomischen Folgen sind nun sehr sichtbar in Großbritannien eingetreten.
In Bezug auf Deutschland bezeichnete „The Economist“ vor 25 Jahren das Land als den „kranken Mann“ in der EU. Jetzt ist es wieder so weit, ohne allerdings eine genderreflektierte Sprache zu benutzen. „Germania“ wäre nicht gerade „very amused“. Schon gar nicht die provokante und daher künstlerisch wertvolle „Germania“ aus dem Video „Deutschland“ der ebenfalls provokanten und zwischenzeitlich schwer angeschlagenen Rockband Rammstein. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck sieht die deutsche Wirtschaft lediglich „etwas außer Form“ und widerspricht der Diagnose von einer ernsthaften Erkrankung. Aber zunächst muss die Bundesregierung nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts das haushaltstechnische Erdbeben um die Finanzierung des Klima- und Transformationsfonds KTF überstehen.
Wie steht es nun um den gegenwärtigen Zustand der größten Volkswirtschaft der EU und Europas? Wenn man vergleichen mag, dann macht das Bruttoinlandsprodukt Russland (wenn man Russland überhaupt noch zu Europa zählen mag…) gerade einmal so viel aus wie das BIP der vier größten Bundesländer Deutschlands (Nordrhein-Westfalen, Bayern, Baden-Württemberg und Niedersachsen).
Inflation, Preisniveauverschiebungen
Nicht nur in den Wirtschaftswissenschaften wähnten wir das Gespenst der Inflation seit mindestens 30 Jahren für tot. Die Entwicklung der Inflationsrate in Deutschland sowie im gesamten EU-Binnenmarkt nahm im Gefolge des russischen Angriffskrieges und der zu spät reagierenden Zinspolitik der EZB besorgniserregende Ausmaße an. Und das konnte man schon vor dem 24. Februar 2022 aufgrund der Angebotsverknappung und Lieferkettenproblematik im Gefolge der Covid-19-Pandemie sowie der bereits 2021 gestiegenen Preise für Primärenergieträger beobachten. Der Krieg gegen die Ukraine wirkte hier wie ein Akzelerator und führte zwischenzeitlich zu drastischen Preisniveauverschiebungen. Die Veränderung des Konsumentenpreisindexes (KPI) im Vergleich zum Vorjahr stieg Ende des Jahres 2022 auf mehr als 10 Prozent in der EU. Die Kerninflation ohne Energiepreis- und Nahrungsmittelpreisentwicklungen ist nach wie vor hoch, auch wenn sich Ende 2023 die Inflationsrate in Deutschland auf unter 5 Prozent bewegt hat. Dies hängt aber vor allem mit der Schwäche der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage in der kriselnden deutschen Volkswirtschaft zusammen, was einen preisdämpfenden Effekt auslöst. Auch in den kleinen, importabhängigen baltischen Euro-Ländern sowie anderen Nicht-Euro-Ländern wie in Polen, Tschechien oder Ungarn beobachten wir eine inflatorische Spirale, die dringend unter Kontrolle gebracht werden muss.
Was sind jedoch die Gründe für die strukturellen Schwächen in der Wirtschaftsstruktur Deutschlands, die bei Fachleuten die Alarmglocken schrillen lassen?
- Schwaches Wachstum des Produktionspotenzials: Sowohl die Covid-19-Pandemie als auch die Energiepreiskrise haben schonungslos offenbart, dass die Abhängigkeit von energieintensiven Industriezweigen der Hochtechnologie massive Auswirkungen nach sich zieht. Die benötigte Frischzellenkur der deutschen Energiewirtschaft und die digitale Umstrukturierung der wichtigsten Wirtschaftsbereiche, der staatlichen Verwaltung und der Bildungslandschaft hinken stark hinter der erforderlichen Dynamik hinterher. Der Modernitätsgrad des volkswirtschaftlichen Kapitalstocks in Deutschlands ist seit langem rückläufig, was ein veritables Wachstumshemmnis darstellt. Dazu kommt eine geradezu dramatische Veränderung in der Altersstruktur der Beschäftigten. Nicht nur der Kapitalstock unserer Volkswirtschaft altert, sondern auch die Beschäftigung!
- Demografische Alterung der Bevölkerung: Der demographische Wandel ist in seiner Dynamik kaum aufzuhalten, kann aber abgemildert werden. Durch wesentlich verbesserte Erwerbsanreize und zwingend notwendige Reformen in der Zuwanderungspolitik kann das Absinken des Arbeitsvolumens aufgehalten werden, denn im Jahr 1991 arbeiteten 40 Mio. Erwerbstätige so viel wie heute 45 Mio. Erwerbstätige. Wir haben zwar deutlich mehr Erwerbstätige im Arbeitsmarkt, was sehr wünschenswert ist, aber arbeiten deutlich weniger als Erwerbstätige vor Jahren. Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit aller Beschäftigten – also Voll- und Teilzeit – liegt nun bei 34,7 Stunden. Die eines/r Vollzeitbeschäftigten beträgt laut Statistischem Bundesamt 40,4 Stunden. Nur eine zielorientierte Migrationspolitik und verstärkte Anreize, eine Arbeit aufzunehmen, können den steigenden Finanzierungsbedarf in den Sozialversicherungen (Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung) abdecken.
- Steigende Armutsgefährdung und stagnierende niedrige Einkommen: Seit 2005 stagnieren die Haushaltsnettoeinkommen der unteren Einkommensgruppen. Immer mehr Gruppen der Gesellschaft sind daher von Armutsgefährdung betroffen. Dies trifft insbesondere auf im Ausland geborene und zugewanderte Personen zu. Nur durch verstärkte Anreize zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit im ersten Arbeitsmarkt sowie durch verstärkte Ausbildung kann diesem Trend entgegengewirkt werden. Armutsgefährdung ist mit problembehafteten Merkmalen wie Bildungsbenachteiligung, mangelnder Chancengerechtigkeit, Langzeitarbeitslosigkeit sowie schlechterer Gesundheit korreliert. Daher ist es eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe der Gegenwart und der Zukunft, in diesen Bereichen verstärkt zu investieren.
Zurück zur makroökonomischen Betrachtung. Zwischenzeitlich ging noch eine Variante des „Gespenstes“ der Inflation um, nämlich das „Menetekel“ der Weltwirtschaft schlechthin – die Stagflation! Wirtschaftliche Stagnation (oder Rezession) und Inflation bedeuten bei einer Stagflation auch steigende Arbeitslosigkeit bei dauerhaften Preisniveauverschiebungen. Bislang sind wir in Deutschland und in der EU davon verschont geblieben, auch weil sich wegen demographischer Entwicklungen eine Robustheit des Arbeitsmarktes zeigt. Im Gegenteil, der Fachkräftemangel in vielen Bereichen der Wirtschaft (Gesundheit, Bildung, Industrie, Handwerk, Transport) seinerseits erweist sich als echtes Wachstumshindernis. Das Jahr 2024 wird neben der Fortdauer des Krieges gegen die Ukraine auch große sozial- und wirtschaftspolitische Herausforderungen in Deutschland und in der EU mit sich bringen. Das Desaster um die deutsche Finanzpolitik, vor allem die Struktur und Höhe der Staatsausgaben, gekoppelt mit einer ungeheuer aufgeblähten Bürokratie, offenbaren schonungslos die Schwachstellen der deutschen Wirtschaftspolitik.