Dr. Zbigniew Wilkiewicz
Garri Kasparow, mehrfacher Weltmeister im Schach und ein führender Vertreter des politischen russischen Exils hat jüngst in 19 Thesen seinem Unmut Ausdruck gegeben, dass der Westen der Ukraine viel zu wenig Unterstützung zukommen lässt und sich damit selbst in eine äußerst prekäre Lage bringt. Der Ukraine droht die Niederlage, der Westen scheint sich damit abgefunden zu haben.
Angesichts des Patts an der Front, der Blockadepolitik der Republikaner in den USA und der erfolgreichen wiederholten Erpressung der EU durch Viktor Orban, scheint es mir sinnvoll diesen „Weckruf“ Kasparovs, der am 18.12. im online-Dienst der Gazeta Wyborcza veröffentlicht wurde, unkommentiert und in eigener Übersetzung zu veröffentlichen.
Sicherlich ist seine Sprache und so manche seiner Thesen sehr plakativ und diskutabel, allerdings teile ich Kasparovs Auffassung, dass weder die USA noch die EU in dem fast nun seit zwei Jahren in der Ukraine wütenden russischen Vernichtungskrieg in der Lage waren, ihre eigenen Ziele klar zu benennen und dementsprechend entschieden zu handeln.
Die NATO-Staaten – so Kasparov – sind in der Lage, die Ukraine entsprechend auszurüsten, indem sie auf ihre eigenen Reserven zurückgreifen. Sie müssen es nur wollen. Jeder, der meint, dass dies zu kostspielig ist, sollte sich vor Augen führen, welchen Preis man bei einem Sieg Putins zu zahlen hätte:
- Die Ukraine sieht in diesem Krieg einer Niederlage entgegen. Die Schuld dafür trägt der Westen. Die Ukraine will und ist in der Lage, Russland und dessen verbrecherischen Diktator Putin zu besiegen, aber sie kann das nicht alleine.
- Die Ukraine muss jeden Tag um ihr Übererdauern kämpfen, während ihr die Munition rationiert wird. Für Joe Biden und die Führer der EU ist es bequem, dass die Putin-nahen Parteien des Westens die Ukraine aufgegeben haben, denn so kann man für die eigene Passivität die amerikanischen Republikaner, die AfD oder Marine Le Pen verantwortlich machen. Dabei könnten die NATO-Staaten die Ukraine heute aus ihren bestehenden Reserven aufrüsten, wenn sie dies nur wollten.
- Die Geschosse, die projektiert und hergestellt wurden, um eine sowjetische Invasion zu verhindern, verstauben heute in NATO- Magazinen. Währenddessen bedroht Putin die Ostflanke Europas. Die US-Administration befürchtet eine Niederlage Putins mehr als die Zerstörung der Ukraine. Europa entzieht sich der realistischen Erkenntnis, dass der Krieg bereits hier ist, auf seinem Territorium.
- Nach der russischen Invasion hat sich Deutschland verpflichtet, 100 Mrd. Euro für dir Erhöhung der Rüstungsausgaben einzusetzen. Bundeskanzler Olaf Scholz verhandelt nach nunmehr fast zwei Jahren noch immer mit Rheinmetall über Preise! Der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius sagt, dass „wir bis zum Jahre 2025 in Europa auf einen Krieg vorbereitet sein sollten“. Meint er vielleicht, dass die Ukraine in Südamerika liegt?!
- Wache auf, Leser. Die Wähler in der EU sollten gegen ihre nur unzureichend kompetenten Politiker wegen des Verrats an der Ukraine aufbegehren und Druck auf sie ausüben. Wenn sie möchten, dass der Krieg außerhalb der Grenzen der EU bleibt, muss die Ukraine jetzt genügend Waffen erhalten, um zu siegen.
- Wenn Du meinst, dass das zu kostspielig sei, dann stelle dir die zwangsläufigen Kosten vor, falls Putin siegt. Aber es gibt doch auch noch die moralischen Kosten: wir alle werden immer mehr ukrainisches Blut auf unseren Händen haben.
- Die Premierminister Chamberlain und Daladier machten im Jahre 1938 in München einen schwerwiegenden Fehler, allerdings kannten sie nicht das ganze entsetzliche Ausmaß der Ziele Hitlers. Putin spricht schon seit langem ganz offen über seine Ziele.
- Nach zwei Jahren des Beobachtens, wie Putin systematischen Völkermord an den Ukrainern verübt, wissen die Führer der westlichen Welt ganz genau, was Putin will: die unabhängige Ukraine total zerstören. Er wiederholt dies sogar immer wieder, so während der letzten „Begegnung mit dem Volk“ am 14. Dezember. Aber seine Ziele sind damit noch nicht erschöpft, also macht es keinen Sinn zu versuchen, ihm mit der Perspektive einer ukrainischen Kapitulation zu besänftigen. Lächelnd macht sich Putin über die politische Ohnmacht der freien Welt lustig. Russland hat seine gesamte Wirtschaft auf die Erfordernisse des Kriegs umgestellt, und Putin braucht den Dauerkonflikt mit der Außenwelt, um sein Regime nach innen zu rechtfertigen und zu stabilisieren. Man darf ihn nicht ignorieren. Man muss ihn besiegen.
- Jeden Tag protestieren Aktivisten und Menschen in der Sorge um Gaza, wer aber marschiert, um die Ukraine zu verteidigen? In den letzten beiden Jahren hat die Armee Putins unzählige Massaker verübt, die dem, das von der Hamas am 7. Oktober verübt wurde, ähneln. Russische hypersonische Geschosse haben zig unschuldige Menschen in Kiew, der Hauptstadt eines europäischen Landes, an nur einem einzigen Tag verletzt – als der Europäische Rat für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der EU stimmte. Die Botschaft Putins war für alle eindeutig.
- Die EU hat der Ukraine eine Million Artilleriegeschosse bis März versprochen. Sie hat nur 60.000 für das nächste Jahr bestellt und nur 480.000 geliefert. Das hungernde Nordkorea hat Russland 1 Million Geschosse geliefert. Die NATO-Länder haben Drohnen für die Ukraine produziert – aber der Iran hat für Russland mindestens fünfmal so viel hergestellt.
- Wirtschaftlich, militärisch, kulturell und technologisch ist die freie Welt Russland und seinen autoritären Verbündeten überlegen. Es fehlt nur an politischem Willen. Wir sollten der Ukraine die benötigten Waffen mit größerer Reichweite liefern. Sollten zusätzliche Finanzausgaben notwendig sein, und sollte es nicht ohne Steuererhöhungen gehen, so wären all diese Kosten doch erheblich geringer als das, was Europa wird bezahlen müssen, wenn Putin siegt.
- Wenn die Ukraine fällt, wird die NATO gezwungen, unzählige Milliarden auszugeben und ihre Armeen zu mobilisieren, um die neue Konfliktgrenze zu sichern. Die Erhöhung des militärischen Potenzials und der Kampfbereitschaft wird dann erst recht ein Vermögen kosten.
- Sollte es Putin gelingen eine blutige Aufteilung der Ukraine zu erzwingen, werden die Autokraten dieser Welt wahrnehmen, dass das gewaltsame Erobern von Territorien und Völkermord straffrei bleibt. Putin selbst wird keinen Grund haben, um es bei der Ukraine zu belassen. Für Xi Jinping bedeutet dies grünes Licht für die Invasion Taiwans. Jeder Diktator wird sich dazu ermutigt fühlen irgendeinen für ihn lohnenswerten Angriffskrieg zu führen. Wir sehen dies jetzt im Fall von Venezuela, wo Nicolas Maduro sich plötzlich ermutigt fühlt, Guayana mit der Wegnahme eines erdölreichen Territoriums zu drohen.
- Europa muss entschieden reagieren. Statt Viktor Orban zu besänftigen, muss es ihn bestrafen: das Stimmrecht Ungarns in der EU aussetzen, so lange es nicht aufhört die Interessen Putins zu repräsentieren. Jeder Euro, der nach Budapest fließt, um die ungarische Wirtschaft zu stützen, sollte zurückgenommen werden. In Kriegszeiten dürfen Kollaborateure nicht die gemeinsame Verteidigungsfähigkeit und die Existenz der Gemeinschaft in Frage stellen; sie müssen unschädlich gemacht werden.
- Westliche Firmen müssen weitere Schritte gegen das Unterlaufen der Sanktionen unternehmen. Viele Konzerne haben sich formal aus Russland zurückgezogen, sie kompensieren dies jedoch, in dem sie den Verkauf an russische Zwischenhändler in Mittelasien erhöhen. Russland produziert seine Drohnen fast ausschließlich mit Hilfe westlicher Komponenten und nutzt sie anschließend zur Tötung von Ukrainern. In Kriegszeiten ist das Liefern von Schmuggelware an den Feind Landesverrat.
- Die USA und die EU sollten die ausländischen Aktiva der um Putin versammelten russischen Eliten übernehmen, um die Verteidigung der Ukraine zu finanzieren. Der Westen fürchtet sich vor Unruhe auf den Märkten, so als wären die langwierigen Konsequenzen der permanenten Aggression Putins nicht weitaus schlimmer.
- Brüssel fürchtet sich davor, gegen die Prozeduren der EU zu verstoßen– dabei würde ein Sieg Putins die EU delegitimieren und ihren Sinn für immer in Frage stellen.
- In seiner Antrittsrede hat der neue polnische Premierminister Donald Tusk zur vollen Mobilisierung der freien Welt aufgerufen. Polen hat Europa gezeigt, wie man sich der Propaganda Putins in Worten und Taten entgegenstellen sollte. Heute müssen wir uns für die Aufrüstung der Ukraine einsetzen – bis zum vollen Sieg, für die Rückgabe des geraubten Gebiets, von der Krim bis zum Donbass. Wir müssen die Magazine öffnen und der Ukraine Waffen und Munition liefern, die sie braucht. Die Ukraine sollte möglichst bald in die EU aufgenommen werden und man sollte ihr nach dem Sieg über Putin die NATO-Mitgliedschaft garantieren.
- Die Ukraine kämpft für eure Freiheit – und für die meine, die eines Russen. Ruhm den Helden.
Leseempfehlung: Herfried Münkler: Welt im Aufruhr. Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert. Berlin 2023.