Dr. Zbigniew Wilkiewicz
Die Tatsache, dass ein russischer Marschflugkörper im Zusammenhang mit den massiven Luftangriffen Russland auf die Ukraine am 29. 12. 2023 in den polnischen Luftraum eingedrungen ist, verdeutlicht erneut, in welcher brisanten sicherheitspolitischen Lage sich nicht nur die Ostflanke der NATO, sondern das gesamte Bündnis befindet.
Diese offenkundige Provokation Russlands zielt auf die Einheit und Resilienz der NATO und der EU, die merklich zu bröckeln scheint. Die nur schleppende und inzwischen in Frage gestellte Militärhilfe der USA sowie die nur zögerliche und ebenfalls in Frage gestellte Militär- und Wirtschaftshilfe der EU für die um ihre Existenz ringenden Ukraine könnten schon sehr bald für den Bestand und die Zukunft eines demokratischen und freiheitlichen Europas verhängnisvoll sein. Besonders, wenn es Donald Trump gelingen sollte, die nächsten Präsidentschaftswahlen in den USA zu gewinnen.
Diese akute Bedrohungslage wird zwar wahrgenommen, aber man ist in Europa offenbar nicht in der Lage, hieraus gemeinsam und geschlossen die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Dies gilt besonders auch für die Bundesrepublik und die Deutschen, denen der Militärhistoriker Sönke Neitzel jüngst „pazifistischen Selbstbetrug“ attestiert hat. (Sönke Neitzel: Pistorius muss die Bundeswehr so aufstellen, dass sie in fünf Jahren kämpfen kann. In: Der Spiegel, 30.12.2023, S.24-27)
Dieser Problematik geht der namhafte deutsche Historiker Ulrich Herbert in einem für die „Gazeta Wyborcza“ durchgeführten Interview mit Maciej Stasiński nach, das am 29. 12. 2023 in der online-Ausgabe der „GW“ erschienen ist. Da sich darin sehr zutreffende Einschätzungen und Desiderate finden, etwa zur möglichen Rolle Polens nach dem Sieg der demokratischen Opposition über die EU-feindliche polnische Rechte oder zur Zukunft der deutsch-polnischen Beziehungen, gebe ich es in eigener Übersetzung wieder. Dabei beschränke ich mich auf den Teil des Interviews, in dem sich Herbert mit den möglichen Auswirkungen und Folgen des russischen Angriffskriegs in der Ukraine für Gesamteuropa und die zukünftige Weltordnung beschäftigt.
(…)
Stasiński: Der Krieg in der Ukraine dauert bereits zwei Jahre. Wohin führt das?
Herbert: Die westliche Unterstützung und Hilfe für die Ukraine nehmen ab. Putin setzt auf einen langwierigen Vernichtungskrieg, er hat Zeit. Die Ukraine hat keine Zeit. Wenn die USA aufgrund der Haltung der Republikaner die Hilfe für die Ukraine verringern oder einstellen, wird Europa eingreifen müssen, vor allem Großbritannien, Deutschland und Frankreich. Aber es ist vollkommen unklar, in welchem Ausmaß diese Hilfe aufrechterhalten werden kann.
Putin wartet ab, wie die Wahlen in den USA ausgehen. Er betet für einen Sieg Trumps. Ob Europa in einem solchen Fall in der Lage sein wird, die Militär- und Wirtschaftshilfe für die Ukraine aufrechtzuerhalten? Sollte die Ukraine militärisch ins Hintertreffen geraten, wird sie im Falle einer Friedenseinigung in einer schlechteren Lage sein. Dann wird Russland zumindest den Osten und den Süden der Ukraine fordern, die bereits jetzt schon militärisch okkupierten Gebiete. Was überhaupt nicht heißt, dass es dabei bleibt…
Na eben, der Wiederaufbau des Imperiums ist doch der Traum Putins.
Sicher, denn er möchte die ganze Ukraine haben. Und das bedeutet eine tödliche Gefahr für alle ehemaligen Sowjetrepubliken, vor allem für Lettland, Estland und Litauen, aber auch für Moldawien, durchaus auch für Polen. Selbst wenn Putin nur ein Drittel der Ukraine bekommt, warum sollte er nicht auch noch nach anderen Ländern greifen, in denen so viele Russischsprachige leben?! Putin verhält sich so wie Hitler in den 1930er Jahren. Zuerst Österreich, dann die Tschechoslowakei und schließlich die deutsche Minderheit in Polen. Das ist eine Gefahr, die uns allen in Europa droht und der wir uns entgegenstellen müssen. Allerdings nimmt die Unterstützung für die Ukraine, die bereits heute nicht ausreicht, um Russland zu besiegen, ab. Das sieht alle sehr instabil aus.
Und in der Union haben wir Ungarn. Als trojanisches Pferd Russlands?
Ungarn und die Slowakei. Aber wenn die Front aus Deutschland, Frankreich und Großbritannien hält, wird es wohl nicht ganz so schlimm. Polen könnte hier viel einbringen, es steht in der EU an vierter, fünfter Stelle. Sollte allerdings Trump in den USA siegen, so wird er nicht nur die Unterstützung für die Ukraine einstellen, sondern auch ein Bündnis mit Putin schließen. Trump bewundert Putin.
Also kommen aktuell nur aus Polen gute Nachrichten, wo die Opposition die Wahlen gewonnen hat?
Sieht ganz so aus, aus heutiger Sicht ist das der einzige Grund für Optimismus. Polen hat ein Beispiel dafür geliefert, wie Demokraten rechte Nationalisten und Populisten in Wahlen besiegen können. Das ist für ganz Europa sehr positiv, und wenn es der neuen Regierung gelingt, die Obstruktion der PiS und des Präsidenten Duda zu überwinden, wenn Donald Tusk die gestörten Beziehungen Polens zur EU und Deutschland heilen kann, wenn Polen wieder zu einem proeuropäischen Staat wird, dann wäre das einfach hervorragend. In Deutschland erinnert man sich daran, dass es die Polen und die „Solidarność“ waren, die dem Kommunismus in der sowjetischen Einflusssphäre den ersten Schlag versetzt und die Wiedervereinigung Deutschlands ermöglicht haben. Außerdem ist das Verhältnis Deutschlands zu Polen sehr wohlwollend…
Nach acht Jahren Albtraum?
Eben! Trotz der PiS, die in den letzten Jahren seltsame und verrückte Dinge über Deutschland und Europa erzählt hat. Deutschland und Polen unterhalten weiterhin gute Beziehungen und eine sehr wichtige und ausgebaute wirtschaftliche Zusammenarbeit, die für die weitere europäischen Integration eine Schlüsselbedeutung hat. In Deutschland wohnen etwa eine Million Polen. Der Nationalismus der PiS ist reiner Anachronismus aus dem XIX. Jahrhundert.
Allerdings steigt die Welle eines populistischen, rechten Nationalismus in Europa weiter an…
Das ist eine weltweite, nicht nur europäische Welle. Trump in den USA, Bolsonaro in Brasilien, jetzt Milei in Argentinien. Ich glaube, dass der Begriff Populismus verschwommen ist. Er suggeriert, dass diese Rechten das Ohr näher an der Straße haben und die Stimmen der einfachen Menschen aufnehmen, dass sie gegen Eliten und Bürokratie sind. Das ist aber überhaupt nicht so. Meiner Meinung nach ist das dieselbe klassische Rechte, nur in neuer Aufmachung. Neu daran ist nur, dass sie zumindest die Demokratie akzeptiert und sie erhalten will.
Allerdings ist das bei Trump etwas anders. Der Sturm auf das Kapitol nach den letzten Wahlen und dem Sieg Bidens beweist, dass Trump die Wählerentscheidung in der Demokratie nicht akzeptiert. Die gesamte rechte Welle bedeutet überdies, dass sich viele Menschen nicht von gemäßigten, demokratischen Führern und Parteien der Mitte repräsentiert fühlen. Vielleicht ist die heutige Welt für zahlreiche Menschen zu kompliziert, da sie in einer anderen, einfacheren, erträumten Welt leben und zu den „guten alten Zeiten“, zurückkehren möchten, die es im Übrigen niemals gegeben hat. Das sieht man vor allem in Frankreich, wo man sich nach dem Agrarland und dem kleinen Mittelstand zurücksehnt, ohne große Banken, Einwanderer und Globalisierung. Das ist so ein nicht besonders realistisches, nostalgisches Zurückblicken in die Vergangenheit.
Welchen Einfluss wird das Ergebnis der US-Wahlen auf diese neue Welle des rechten Populismus und Nationalismus haben?
Ich meine, dass ein Sieg Trumps alles verändern wird. Im Hinblick auf alle Fragen, über die wir hier sprechen – Israel, die Ukraine, Europa und seine rechte Welle. Wir stehen bereits am Scheideweg, aber noch ist nicht klar, was die Ereignisse bringen werden. Die Entwicklung des Kriegs von Israel gegen die Hamas, des Kriegs in der Ukraine, der Europa bedrohenden Nationalismen ist weiterhin offen. Ein Sieg Trumps würde dieses labile Gleichgewicht ins Wanken bringen.
In Europa erleben wir nicht nur den Sieg der extremen Rechten, sondern auch deren zunehmende Akzeptanz. Das, was wir in Frankreich, in Holland, in den östlichen Bundesländern Deutschlands beobachten, wo die AFD bereits stärker ist als die CDU, ist schon sehr gefährlich. Es ist noch immer möglich, dass die liberalen Demokraten siegen, Polen hat gezeigt, dass sie es können. Aber ein Sieg Trumps wird die politischen Strukturen des Westens und die internationale Machtbalance verändern. Das bedeutet eine Änderung der Kulturhegemonie. Ich glaube nicht, dass die europäischen Regierungen darauf vorbereitet sind.
Ähnliches geschah in den 1930er Jahren des XX. Jahrhunderts in Europa. Dabei ging es nicht nur um die das nationalsozialistische Dritte Reich, sondern auch um andere Länder, die sich ebenfalls von der Demokratie abwandten und sich in Richtung Diktatur oder autoritäre Regierungen entwickelten. Die Nationalsozialisten haben diese Welle bei diesen Ländern provoziert.