Dr. Zbigniew Wilkiewicz
Der Krieg in der Ukraine ist zu einem Abnutzungskrieg geworden, der von der seit fast zwei Jahren unter Dauerbeschuss stehenden Ukraine enorme Opfer fordert. Man konnte über Weihnachten und Neujahr wahrnehmen, welchem Raketenhagel das Land ausgesetzt wurde und wieviel zivile Opfer es dabei gab. Während Putin die russische Wirtschaft seit Monaten auf Krieg umgestellt hat und sich auf einen langfristigen Konflikt setzt, bei dem weder ukrainische noch russische Menschenopfer eine Rolle spielen, ist die Ukraine in hohem Maße auf die militärische und wirtschaftliche Hilfe des Westens angewiesen.
Daran scheint es aber in den USA und auch in der EU momentan zu hapern. Sind es in den USA vor allem die Republikaner, die sich als indirekte Helfer Putins hervortun, so ist es in der EU Viktor Orban, der wichtige Entscheidungen zur Verteidigungsfähigkeit der Ukraine – und somit auch der EU und des Westens – effektiv blockiert. Diese fatale Gespaltenheit und Unentschlossenheit des Westens kommen Putin sehr entgegen. Sie ermutigen ihn dazu, immer dreister und rücksichtsloser vorzugehen.
In dieser kritischen Situation sind es die europäischen Führungsmächte, die voran gehen und Entschiedenheit zeigen sollten. Dies gilt vor allem für die Bundesrepublik als finanzstärkstem europäischem Staat, der gemessen an seinem BIP die Ukraine weiterhin recht zurückhaltend unterstützt.
Insofern ist es höchste Zeit, dass sich angesichts des Patts an den russisch-ukrainischen Fronten nun Experten aus Wissenschaft und Politik zu Wort melden, die hervorheben, dass man in Deutschland Gefahr laufe, auf dem Holzweg zu sein.
Die nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine von Olaf Scholz verkündigte „Zeitenwende“ blieb – was ihre Ankündigung und erst recht ihre Umsetzung angeht diffus, da der Bundeskanzler nicht erklärte, welche Zeit für wen zu Ende gegangen sei. Denn während Russland an seine seit dem 18. Jahrhundert betriebene imperiale Politik in der Ukraine anknüpft und die seit dem Zusammenbruch der UdSSR bestehende Weltordnung massiv in Frage stellt, hält Olaf Scholz weiterhin an seinem vagen Diktum fest, dass Russland den Krieg nicht gewinnen und die Ukraine ihn nicht verlieren dürfe. Damit tendiere die Bundesrepublik dazu – so Martin Schulze Wessel – „der Ukraine nicht zum Sieg zu verhelfen, sondern den Krieg irgendwie einhegen zu wollen“. Ähnlich wie der zuletzt von mir zitierte Militärhistoriker Sönke Neitzel in seinem kürzlich erschienenen Interview im „Spiegel“, bescheinigt auch Schulze Wessel der deutschen Politik, die krude Wirklichkeit nicht wahrzunehmen und in eingefahrenen Mustern zu verharren: „Die deutsche Politik verdrängt, was man nicht übersehen kann, wenn man mit einem historischen Bewusstsein für die autoritären und totalitären Bedrohungen des zwanzigsten Jahrhunderts ausgestattet ist: dass der großen Gefahr nur durch eine ebenso große Anstrengung auf westlicher Seite zu begegnen ist. Stattdessen blickt die deutsche Politik der Einhegung mit einem Auge nach Moskau, dessen Eskalation sie fürchtet. Unmerklich driftet die Politik wieder in Politikmuster zurück, die vor der Zeitenwende gültig waren.“ (Martin Schulze-Wessel: Führung wäre jetzt verlangt. In: FAZ, 03.01.2024, S.5)
Während man in Deutschland weiterhin die Furcht vor einer nur wenig wahrscheinlichen nuklearen Eskalation des Krieges als Argument für das eigene Zögern (zuletzt Taurus-Debatte!) ins Spiel bringt, unterschätze man, so Schulze Wessel, welche Konsequenzen nach einer Niederlage und Teilung der Ukraine drohen: „Das größte Land Europas würde von dem Gefühl aufgewühlt werden, vom Westen verraten worden zu sein, die ukrainische Demokratie, bislang selbst im Krieg seit 2014 stabil, von nationalistischen und illiberalen Stimmungen erschüttert. Russland, das seit drei Jahrzehnten auch die Republik Moldau und Georgien destabilisiert und die baltischen Staaten einschüchtert, würde in seinem aggressiven imperialen Vorgehen bestärkt.“
Um ein solches Szenario zu verhindern. sollte – wie zuletzt etwa Peter Carstens oder Carlo Masala in ihren jüngsten Veröffentlichungen hervorgehoben haben, die Ukraine im ureigensten deutschen (und europäischen) Interesse entschiedener unterstützt werden und Deutschland sich verteidigungspolitisch und militärisch schneller und besser rüsten. (Peter Carstens: Das Ukraine-Paradox. Deutschland unterstützt viele ukrainische Männer, die sich dem Wehrdienst entziehen. Dabei könnte man sie in der Ukraine gut gebrauchen. In: FAZ, 20.12.2023, S.2; In Haltung erschöpft. Deutschland zwischen Anspruch und Wirklichkeit: Carlo Masala, Sebastian Ulrich und Matthias Hansl halten der „Zeitenwende“ den Spiegel vor. In: FAZ, 27.12.2023, S.3).
Die Ukraine benötigt in der aktuellen sehr kritischen Pattsituation dringend mehr Munition und die so lange geforderten und bislang verweigerten Marschflugkörper Taurus. Ansonsten – so Marie-Agnes Strack-Zimmermann sehr zutreffend, werde die Zusage, Kiew so lange wie nötig zu unterstützen, zur Phrase. Ganz ähnlich äußerten sich zu Jahresbeginn namhafte Politiker von den Grünen, aus der CDU und der CSU. Die Bundesregierung ist also gefordert.
Unabhängig von dieser deutschen Debatte sollten die europäischen Führungsnationen Deutschland, Frankreich und Großbritannien angesichts der völkermörderischen Kriegsziele Putins unmissverständlich zum Ausdruck bringen, die Ukraine in ihrem Überlebenskampf bis zu ihrem Sieg über Russland zu unterstützen.
Zumal man in der gesamten EU gut beraten wäre, für den November 2024 von einem Worst-Case-Szenario auszugehen, dem Wahlsieg Donald Trumps in den USA.