Dr. Gerhard Schüsselbauer
“Es regnet nicht hundert Jahre lang immer in denselben Weiher” (Bayerisches Sprichwort)
Der 15. März ist ein großer Staatsfeiertag in Ungarn und erinnert an den Freiheitskampf und die Märzrevolution von 1848, während im Gefolge der Freiheitskampf (szabadságharc) der aufständischen Ungarn gewaltsam niedergeschlagen wurde. Im kollektiven Gedächtnis geht es an diesem Tag um das Erkämpfen des Rechts gegenüber staatlicher Willkür und Unterdrückung. Mit der historischen Wahrheit kommen unweigerlich die Freiheit und die Rechtsstaatlichkeit! Das war zumindest die Hauptintention der aufständischen ungarischen Helden von 1848 und auch von 1956 im Volksaufstand gegen die kommunistische Herrschaft.
Sozialwissenschaftliche und philosophische Theorien über Revolutionen legen nahe, dass die meisten Umstürze nicht von außen kommen, sondern ein innerer Zirkel um den Machthaber herum sich entschließt, den Umsturz einzuleiten und auszuführen. Auch wenn sich Hannah Arendt eher den großen Revolutionen in der Geschichte widmet (Französische Revolution und russische Oktoberrevolution), so identifiziert man gleichzeitig die Bedeutung des Wandels innerhalb der inneren Führungsschicht, wenn sich der Machthaber gegen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit richtet, den Bezug zu den Bedürfnissen des Volkes völlig außer Acht lässt und sich sogar skrupellos bereichert. Deshalb gehen nun verstärkt Menschenmassen auf die Straßen unter dem Motto „Da draußen gehen Monster umher – Setzen Sie sich für die Opfer, für die Kinder und für eine gesunde Gesellschaft ein!“
Doch was ist Wahrheit im gegenwärtigen politischen Diskurs in Ungarn? Ministerpräsident Viktor Orbán wurde nicht müde, die EU und Brüssel permanent zu erpressen, zu geißeln und als Feindbild zu stilisieren, denn laut Orbán spreche die EU mit Ungarn wie mit Feinden. Wieder einmal sieht er in gleichsam neurotischer Form eine Verschwörung heraufziehen und dämonisiert diffuse Kräfte außerhalb des Landes. In Wirklichkeit haben die Parteifreunde Orbáns von der Regierungspartei Fidesz praktisch alle politischen und institutionellen Schaltstellen des Landes seit langem monopolisiert. Orbán hat das Land bislang unmissverständlich fest im Griff. Aber es gibt eindeutige Zeichen einer inneren Sklerose in der Fidesz-Partei, und nun regt sich heftiger Widerstand. Im Gefolge eines Missbrauchsskandals in einem Kinderheim musste sogar die ungarische Staatspräsidentin Katalin Novák zurücktreten, weil sie einen in die schlimme Affäre verwickelten Mann begnadigt hatte. Auch Zoltán Balog ehemaliger Minister für Humanressourcen unter Orbán und pastoraler Präsident der Synode der ungarischen reformierten Kirche trat im Februar 2024 zurück. Schwerwiegende Anschuldigungen erhebt auch der ehemalige und nun abtrünnige Parteifreund Orbáns Péter Magyar, der den Kreis um den Ministerpräsidenten als „Familienaktiengesellschaft (családi részvénytársaság)“ bezeichnet. Es ist kein Geheimnis, dass Orbáns Jugendfreund Lőrinc Mészáros auf geradezu groteske Art als einfacher Heizungsinstallateur zu fabelhaftem Reichtum gelangt ist. Ungarische Journalisten deckten auf, dass über seine Firma öffentliche Gelder an die Familie Orbán flossen. Trotz all der bekannten Skandale und Korruptionsvorwürfe sitzt Orbán nach wie vor felsenfest im Sattel. Das liegt vor allem auch an einer schwachen und völlig ungeeinten Opposition. Dies unterscheidet Ungarn stark von Polen, wo im Dezember 2023 der politische Wandel durch vereinigte Oppositionskräfte unter Führung von Donald Tusk eingetreten ist.
2022 und 2023 waren für Ungarn schwere Jahre der wirtschaftlichen Rezession und einer zwischenzeitlich auf über 20 Prozent gestiegenen Inflationsrate, was zu drastischen Realeinkommensverlusten führte. Für 2024 ist zwar zögerliche konjunkturelle Erholung vorhergesagt, aber schwacher inländischer Konsum, akuter Fachkräftemangel in der Industrie und die Verunsicherung von ausländischen Investoren tragen nicht zu einer Verbesserung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen bei. Die nun freigegebenen EU-Fördergelder aus dem Kohäsionsfonds sowie dem Fonds für den wirtschaftlichen Wiederaufbau nach der Covid-19-Pandemie (NextGenerationEU) in Höhe von ca. 11 Mrd. € müssen dringend zielgerichtet in die Verbesserung der physischen und digitalen Infrastruktur und nicht in den Bau des nächsten überflüssigen Sportstadions oder einer Schwimmarena investiert werden.
Entscheidend wird sein, ob es den versprengten oppositionellen Kräften in den nächsten zwei Jahren gelingt, eine tragfähige Anti-Orbán-Koalition zu schmieden, denn zu unerträglich ist seine Nähe zur russischen FSB-faschistischen Führungselite um Wladimir Putin. Ungarn hatte bis Ende 2023 nur ca. 33.000 ukrainische Geflüchtete aufgenommen, das sind nicht nur absolut, sondern auch prozentual viel weniger aufgenommene Geflüchtete wie in Tschechien, der Slowakei, Rumänien oder Bulgarien, ganz zu schweigen von Polen, das nahezu 1 Mio. registrierte Geflüchtete aus der Ukraine beherbergt. Zu ernüchternd ist die ablehnende, geradezu abschreckende Politik der ultrakonservativen Regierung Viktor Orbáns auch in diesem Aspekt der fehlenden europäischen Solidarität. Viel lieber geht Orbán den beschämenden Weg, ein Lakai Putins zu sein, der seinerseits nichts mehr anstrebt als eine Spaltung innerhalb der EU und der NATO.
Es ist nicht alles Gold, was glänzt, in „Orbánistan“, Budapest 2023, eigenes Foto.